DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
nischen kalligraphischen Sammelwerke von der Art des Lo presente libro insegna la
vera arte de lo excellente scrivere, das Giovanni Antonio Tagliente im Jahre 1524
und in einer weiteren Auflage 1531 in Venedig herausgab, oder namentlich das be¬
deutende, hier bereits zitierte und in vielen Auflagen verbreitete Werk Giambattista
Palatinos aus dem Jahre 1540, oder auch das hier ebenfalls schon mehrfach erwähnte
Werk Fra Vespasiano Amphiareos aus dem Jahre 1554, wo die lettera cancellaresca
in vielen Beispielen und verschiedenen Formen enthalten ist, nicht hoch genug be¬
werten. Die cancellaresca romana selbst ist darin sowohl mit typischen, sehr kursiven
Modifikationen von gebundenem Duktus vertreten, als auch mit sehr formalen, isoliert
geschriebenen Varianten, bei denen zwar die typischen Schäfte der Buchstaben b, d,
h, l nach rechts gebogen wurden, aber die Unterlängen der Buchstaben p und q mit
flachen beiderseitigen Serifen versehen sind.
Viele Autoren kalligraphischer Handbücher der Renaissance berufen sich darauf,
daß sie bei ihrer Arbeit, auch was die cancellaresca betrifft, von den geometrischen
Regeln der klassischen Inschriften ausgehen. Dennoch ist vielleicht Ferdinando Ruano,
Schreiber der vatikanischen Kanzlei, der einzige, der das in seinem 1554 in Rom
herausgegebenen Buch Sette alphabeti di varie lettere formati con ragion geometrica
auch anschaulich durch den Versuch dokumentiert, geometrische Beziehungen der
schmalen Zeichnung des kleinen Alphabets dieser Kursiv zu den klassischen Vierecken
der scriptura quadrata (Taf. XXII) herzustellen. Seine so konstruierte cancellaresca
romana unterscheidet sich jedoch stark von anderen Beispielen dieser Schrift, vor
allem durch die außerordentlich kurzen Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l, ebenso
wie durch den sehr fetten und sehr scharfen Duktus. Obwohl sie sich nicht an ähnli¬
chen Konstruktionen mit Zirkel und Lineal versuchten, kamen seine Vorgänger und
Zeitgenossen dennoch zu schönen und vielleicht sogar besseren Ergebnissen, was be¬
weist, daß es im Falle von Kursivschriften mehr als bei anderen Schriftformen auf
graphisches Gefühl als Hauptvoraussetzung ankommt, die man nur schwer durch
komplizierte Konstruktionen ersetzen kann. Und dieser graphische Sinn kommt auch
in späteren Sammelwerken italienischer Kalligraphen, die nach Ruano in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen und in denen die cancellaresca romana ge¬
wöhnlich sehr zahlreich vertreten zu sein pflegt, zur Geltung.
Inzwischen eroberte sich die cancellaresca romana einen festen Platz auch im Re¬
pertoire der Kalligraphen außerhalb Italiens und schließlich auch in den Ländern,
wo während der ganzen Renaissance bis dahin die einheimischen Kursivschriften des
gotischen Typus überwogen hatten. Das war zum Beispiel in den Niederlanden mit
ihrer berühmten Kalligraphieschule der Fall, deren Ruhm der Amsterdamer Heraus¬
geber und Kalligraph Gerardus Mercator mit seiner schon im Jahre 1540 in Antwerpen
erschienenen Sammlung Litterarum latinarum quae Itálicas cursoriasque vocant scri-
bendarum ratio begründete. In diesem Büchlein ist neben vielen anderen in Holz¬
schnitt reproduzierten Mustern verschiedener zeitgenössischer Schriften die cancella¬
resca romana durch ein besonders schönes Alphabet vertreten, dessen Zeichnung
sicherlich neben den schönsten Beispielen der italienischen Kalligraphie ehrenhaft
bestehen kann (Abb. 35). In solch unverfälschter Form ist aber die cancellaresca ro¬
mana in der außeritalienischen Kalligraphie recht selten, da sich in ihr größtenteils
die Einflüsse der einheimischen Schreibtradition widerspiegeln.
Wenn schon die cancellaresca romana eine Schrift war, die große Sorgfalt und ein
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LETTERA CANCELLARESCA
beachtliches Können zur Erreichung von Ergebnissen verlangte, um auch nur an¬
nähernd den Mustern der Kalligraphen in ihren zeitgenössischen Sammelwerken
gleichzukommen, so war ihre weitere Modifikation CANCELLARESCA FOR¬
MATA noch weitaus schwieriger. In diesem Fall ging es den Kalligraphen bereits um
eine Schrift mit den Merkmalen einer Buchschrift oder einer zeitgenössischen typo¬
graphischen Schrift, die zweifellos ihren Einfluß auf diese kalligraphische Form geltend
machte. Die cancellaresca formata zeichnet sich darum, wie etwa in dem Muster
Palatinos (Abb. 37), vor allem durch das konsequente Buchprinzip der selbständigen
Reihung einzelner Buchstaben ohne kursive Verbindungen aus, die sich sonst nur in
einigen Ligaturen erhielten. Ein anderes Kennzeichen der Kursiv dieser Art ist die
Mäßigung in der kursiven Neigung der Schriftbildachse. Diese Neigung weicht nie¬
mals mehr als 8-10 Grad von der Vertikale ab, und übrigens gibt es gar nicht so seltene
Beispiele dafür, daß die cancellaresca formata völlig senkrecht steht. An die Druck¬
antiqua erinnert sie auch mit der Form der verhältnismäßig kurzen Oberlängen der
Buchstaben b, d, h, k, l, die nicht gebogen sind, sondern entweder glatt abschneiden
oder mit dreieckigen, links auslaufenden Serifen enden. Beiderseitige Serifen beenden
dann auch die Unterlängen der Buchstaben p und q. Als eigentliche Vorläufer und
Vorlage dieser formalen Kursiv erweist sich jedoch die lettera di brevi, und zwar durch
die ständige Anwesenheit typischer, oben nach rechts und unten nach links verlau¬
fender, keulenartig endender Bögen der Buchstaben У und langes s. Von den übrigen
Buchstaben des Alphabets, das durch eine noch engere und spitze Zeichnung gekenn¬
zeichnet ist, muß man vielleicht nur noch den Buchstaben g anführen, der hauptsächlich
in seiner Buchform vorkommt.
Auch die cancellaresca formata war eine behebte Form der italienischen Schön¬
schreiber, die sie während des ganzen 16. und 17. Jahrhunderts in ihren Sammlungen
in entweder noch deutlich kursiven oder so ziselierten Formen reproduzierten, daß ihr
nicht viel zur Präzision und Ausgeglichenheit der Drucklettern fehlte (Taf. XXIV).
Ebenso begegnen wir ihr sehr häufig in außeritalienischen kalligraphischen Werken,
und zwar vor allem in besonders formalen Varianten mit sehr ausgeprägten und
übertriebenen Serifen, Varianten, die oft mit besonderen Bezeichnungen versehen
wurden und in einigen Fällen, mit denen wir uns noch bekanntmachen werden, tat¬
sächlich die Möglichkeit einer weiteren, wenn auch in eine Sackgasse führenden Ent¬
wicklung der handschriftlichen Lateinschrift ankündigten. Aussichtsreichere Entwick¬
lungsperspektiven hatte die cancellaresca formata zweifellos auf dem Gebiet der
Typographie, und auch in dieser Hinsicht werden wir sie uns zu einem späteren Zeit¬
punkt noch einmal vornehmen müssen.
Die cancellaresca formata war zwar eine außerordentlich vollendete und schöne
Schrift, aber bei all ihrer Einfachheit doch ungewöhnlich schwierig. Um ihre Vorzüge
auch für den alltäglichen Gebrauch nutzen zu können, paßten die italienischen Schrei¬
ber ihre Zeichnung ein wenig der Forderung nach größtmöglicher Schreibgeschwin¬
digkeit an und brachten so eine weitere Form hervor, die sie als CANCELLARESCA
BASTARDA bezeichneten. Als bloße kursivere Version der vorangegangenen Skript
unterschied sich die cancellaresca bastarda wirklich nur unmerklich von dieser, und
es ist nicht verwunderlich, daß die beiden Varianten manchmal nur schwer zu unter¬
scheiden sind. Im wesentlichen zeichnet sich die cancellaresca bastarda durch eine
größere Freiheit ihrer gerundeteren und weniger spitzen Schriftzeichnung aus, die
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