DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
senkrecht geschrieben wurde. Der Einfluß des Barocks machte sich bei ihr nur mit
einer stärkeren Abrundung der Oberlängen in Übereinstimmung mit der Tendenz
der zeitgenössischen Kalligraphie bemerkbar. Was die Majuskel betrifft, wandelte
sich die ursprüngliche Renaissance-Kapitale allmählich zu kalligraphischen, mit einem
Zug geschriebenen Formen, die in einigen Fällen, wie zum Beispiel bei den Buchstaben
A, E und G, aus Minuskelformen hervorgingen.
Diese typische unverzierte Renaissanceschrift, zu deren Ausformung die scrittori di
brevi apostolici nicht wenig Schriftfertigkeit anwandten, blieb jedoch nicht lange aus¬
schließlich der päpstlichen Kanzlei vorbehalten. Wegen ihrer Eleganz und Einfach¬
heit gewann sie rasch allgemeine Beliebtheit und wurde nicht nur von Fürstenhöfen
und städtischen Kanzleien kopiert und adoptiert, wie zum Beispiel in Florenz, Ferrara
und Venedig, sondern auch von humanistischen Gelehrten und Renaissancekünstlern,
wie Mantegna, Benvenuto Cellini, Leonardo da Vinci, Michelangelo u. a. (Abb. 31).
Auch Schreiblehrer und Berufsschreiber nahmen sich sie bald zum Vorbild und ver¬
sahen die eigenen Varianten dieser ursprünglichen Kanzleischrift mit der Bezeichnung
LETTERA CANCELLARESCA oder corsiva cancellaresca oder kurz cancellaresca. Diese
kultivierte Kanzleiform der humanistischen Kursiv littera humanistica cancellaria (Bat¬
telli) verdient nicht nur wegen ihrer Bedeutung als Ausgangspunkt einer weiteren
Entwicklung der Kursiv der Renaissance und Nachrenaissance besondere Beachtung,
sondern auch wegen ihrer nicht alltäglichen graphischen Qualitäten. Besonders schön
ist sie in frühen Beispielen, wo sie durch den Reiz ihrer harmonisch ausgewogenen
Gegensätze wirkt, die zwei verschiedene Kompositionstendenzen aufweisen, nämlich
die Statik der einfachen senkrechten Majuskeln, die unverändert aus der zeitgenös¬
sischen Buchschrift übernommen wurden, und die kursive Dynamik des geneigten
kleinen Alphabets. Später konzentrierte sich das Interesse der Kalligraphen jedoch
gerade auf die Majuskel, da diese ihnen eigentlich die einzige Gelegenheit bot, ihre
individuelle Schreibfertigkeit und ihren Scharfsinn geltend zu machen. Von den ur¬
sprünglich einfachen Majuskeln, ähnlich denen, die die humanistische Minuskel be¬
gleiteten, blieben einige auch weiterhin neben neuen kalligraphischen Formen er¬
halten, die manchmal mit sehr einfachen Mitteln erzielt wurden, zum Beispiel durch
die für diese Kursiv so typische Verlängerung der Bögen der schmalen Majuskel С bis
zu den äußersten Grenzen der Ausdehnung des Minuskelsystems. An Varianten der
übrigen Majuskeln gibt es bei den verschiedenen Schönschreibern natürlich, abge¬
sehen von der unzweifelhaften Verwandtschaft, viel zu viele, als daß wir sie in einem
kurzen Überblick zusammenfassen könnten. Außerdem werden inein und demselben
kalligraphischen Sammelwerk dieser Zeit, etwa dem erstmalig 1540 in Rom heraus¬
gegebenen Libro nuovo d'imparare a scrivere tutte sorte lettere antiche ed moderne
etc., einem Werke des G. В. Palatino, diese Majuskeln in einer ganzen Reihe von Mo¬
difikationen einzelner Buchstaben (Abb. 36) vorgeführt. Schließlich hielt nur das 0
den dekorativen kalligraphischen Eingriffen stand, während alle übrigen Majuskeln
Formen erhielten, die in manchen Fällen völlig die eigene Schriftkonstruktion ver¬
deckten und den so betroffenen Buchstaben manchmal sehr schwer lesbar machten.
Beachtenswert ist aber, daß die Majuskeln in der italienischen Kanzleischrift mit ihrem
von kalligraphischen Zutaten gründlich gereinigten Schriftbild selten die mittlere
Minuskelhöhe des kleinen Alphabets überragten.
In der Zeichnung des kleinen Alphabets begannen die italienischen Kalligraphen
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33. Lettera di brevi des 16. Jahrhunderts.
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