DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
gelangte die humanistische Minuskel in die Kanzlei des ungarischen Königs. Erst im
zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts konnte die neue Schrift in Frankreich Fuß
fassen, noch später in England, in Spanien und für eine Zeitlang hier und dort auch
in Deutschland. Das geschah schon zu gleicher Zeit und unter dem Einfluß der Buch¬
druck-Varianten der humanistischen Minuskel, deren schöne und höchst interessante
Blüte an und für sich ein so umfangreicher Stoff ist, daß wir seine Schilderung auf ein
besonderes Kapitel verschieben müssen. Zuvor aber wollen wir unsere Aufmerksam¬
keit der nicht weniger bemerkenswerten Entwicklung der Kursivschriften der Renais¬
sance zuwenden.
Wenn mit der humanistischen Bewegung die Buchformen der gotischen Schrift ver¬
lassen und durch die neokarolingische Minuskel ersetzt wurden, mußte noch ein Er¬
satz für die gotischen Kursivschriften gefunden werden. Eine neue Kursiv konnte
allerdings nur nach Ablauf einer bestimmten Frist als sekundäre Form entstehen, so
wie das auch fast in allen anderen historischen Perioden, die wir bisher kennenlernten,
der Fall war. Die unformalen Skripten des täglichen Bedarfs oder die formaleren
Kanzleiskripten entwickelten sich im Lauf der Zeit immer aus streng formalen Monu¬
mental- oder Buchschriften, die in der Regel jeden Stilwandel in der Geschichte der
Schrift einleiteten. So mußte, ebenso wie zuvor so häufig in den Anfängen der Ent¬
wicklung neuer Schriftformen, auch in der Renaissance die frühe Buchform zunächst
die ausklingenden Kursivformen ersetzen. Auf diese Weise wurde die humanistische
Minuskel am Anfang der Renaissance - wie an dieser Stelle bereits erwähnt - zur
Schrift der Urkunden, Briefe und Anmerkungen. Daraus entwickelte sich in den ersten
Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts durch die Tätigkeit der Schreiber, die um eine
größere Schnelligkeit des Schreibvorgangs bemüht waren, die HUMANISTISCHE
KURSIV. In dieser ihrer Keimform war sie allerdings nichts anderes als eine mehr
oder weniger deformierte, flüchtiger geschriebene humanistische Minuskel, von der
sie sich vorläufig in der Schriftzeichnung nicht wesentlich unterschied. In dem Be¬
streben, Mühe und Zeit zu sparen, unterwarfen die Schreiber in der weiteren Ent¬
wicklung die humanistische Minuskel den gleichen graphischen Eingriffen, die wir
zuletzt bei der Schaffung der gotischen Kursiv festgestellt haben. Wie uns zum Beispiel
der Vergleich von Handschriftproben der gelehrten Humanisten Flavio Biondo aus
dem Jahre 1422 (Abb. 29) und Pomponio Leto von 1464-1471 (Abb. 30) vor Augen
führt, macht sich das durch schwache Verbindungsstriche bemerkbar, die die ein¬
zelnen Buchstaben verbanden, während die in Buchform geschriebenen immer ge¬
trennt standen. Ein weiteres Merkmal waren die runden An- und Endstriche der
Schäfte, unter denen besonders die aufwärtsgezogenen der Tendenz zur runden oder
schhngenförmigen Ausformung an Stelle der formalen Serifen an den Scheiteln ähnli¬
cher Züge der Buchschriften unterlagen. Der dritte Eingriff bestand in der kursiven
Rechtsneigung der Schriftbildachse, was aber an sich noch kein entscheidendes Merk¬
mal von Kursivität ist, obwohl es gewöhnlich dafür gehalten wird. Schließlich bestand
ein weiteres Ergebnis der formalen Wandlung der Buchschrift zur Kursiv in der Um¬
formung einiger Buchstaben, unter denen eine für die Bestimmung einer ausgereiften
Renaissancekursiv besonders entscheidende Form das a von gleicher einbäuchiger Ge¬
stalt darstellt, wie wir sie bei der gotischen Kursiv kennengelernt hatten. Und ähnlich
wie dort sind auch für die Renaissance-Kursiv die unter die Fußlinie gezogenen
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2g. Cicero, Brutus. Flavio Biondo, 14.22.
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30. Tacitus, Agricola. Pomponio Leto, etwa 1464-14J1.
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31. Michelangelo, Autograph aus dem Jahre 1545.
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