DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
sehen Majuskel größtenteils auf einen bloßen, etwas gewellten Federstrich oder auf
eine Andeutung in Form eines Ansatzes des Zuges, wie zum Beispiel im Kopf der
Buchstaben B, E, F, P und R, oder auch auf ein bloßes Umbiegen des schrägen
Schlußstriches, wie es manchmal beim A, M, X oder auch senkrechter Schäfte, wie
bei einigen Varianten der Buchstaben P und T vorkommt. Der altrömischen epigra¬
phischen Form begegnen wir im Alphabet der humanistischen Majuskel nach langer
Zeit wieder beim Buchstaben Y. Hieraus ist ersichtlich, daß die Humanisten ihr großes
Alphabet einigermaßen auch nach altrömischen Inschriftenschriften korrigierten, und
dafür würden auch die klassisch ausgewogenen Proportionen der einzelnen Buchstaben
sprechen. Es gibt freilich Beispiele besonders luxuriöser humanistischer Kodizes aus
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, z. B. die florentinische Handschrift des Do-
mitius Calderinus, Commentarii in Juvenalem aus dem Jahre 1474 (Taf. XX), in
denen die Nachahmung epigraphischer Muster völlig offenkundig ist. Die Majuskel
im Text des reich ausgestatteten Titelblatts dieser herrlichen Handschrift ist zweifellos
ein Zeugnis für den Umschwung in der Entwicklung der Renaissance-Majuskel über¬
haupt, die Wendung zum unmittelbaren Studium und zur Nachahmung altrömischer
klassischer Inschriften, die wir bereits im vorangegangenen Kapitel über die Renais¬
sance-Inschriftenschriften feststellen konnten. In den Buchhandschriften finden wir
eine so orientierte Kalligraphie der Renaissance allerdings nur ausnahmsweise und
nur außerhalb des Haupttextes auf ausgesprochen malerisch gelösten Seiten vor, etwa
dem erwähnten Titelblatt. Innerhalb des Textes und zusammen mit der humanisti¬
schen Minuskel hat die humanistische Majuskel immer Schreibcharakter und wird
nach den angeführten Schreibregeln geschrieben. Als Handschriftenschrift war aber
die humanistische Majuskel auch so keine Schrift von uniformem Duktus, und darum
sind in verschiedenen Handschriften einzelne Buchstaben zeichnerisch verschieden
gelöst. Eine bedeutsame Eigenschaft, die in der Mehrzahl der Handschriften des 15.
Jahrhunderts die humanistische Majuskel auszeichnet, sind ihre im Verhältnis zum
Schriftbild des kleinen Alphabets geringen Ausmaße, was der Ausgeglichenheit und
Ruhe der Textseiten humanistischer Handschriften zweifellos sehr förderlich ist.
Mit der humanistischen Majuskel und Minuskel geschriebene Handschriften sind
in Bibliotheken und Museen ganz Europas in großer Zahl erhalten. Es ist begreiflich,
daß wir auch hier Unterschieden des Duktus begegnen, der manchmal eine kursive
Flüchtigkeit - humanistica cursiva, humanistica currens (Battelli) - aufweisen kann, während
er in besser illuminierten Handschriften dagegen sehr formal zu sein pflegt, mit sorg¬
fältig abgezirkelter Zeichnung der einzelnen, isoliert geschriebenen Buchstaben. In
solchen Kodizes unterscheidet sich die humanistische Minuskel nur durch die Breite
des Schriftbildes, das in manchen Handschriften verhältnismäßig eng ist (Taf. XVIII).
Als typisch und stilrein muß man jedoch die völlig runde humanistische Minuskel
ansehen, wie etwa in Columellos Schrift De re rustica aus dem Jahre 1488 (Taf. XIX),
einem besonders schönen Beispiel vollendeter humanistischer Schreibkunst. Die Schrift¬
zeichnung dieser Handschrift zeigt alle Vorzüge der ausgereiften italienischen Kalli¬
graphie, die ausgewogenen Proportionen des runden Schriftbildes im glücklichen Ver¬
hältnis zu den extremen Grenzen des Minuskelsystems und auch den gemilderten
Strichstärkewechsel. Diese schöne Minuskel wird von Majuskeln begleitet, die nicht
nur wegen ihrer typischen humanistischen Buchform bemerkenswert sind, sondern
auch, weil ihre Maße mit Bedacht festgelegt wurden, damit sie bei Verwendung im
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2J. Humanistische Majuskel des /5. Jahrhunderts.
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