DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
nistische Übergangsminuskel die Bezeichnung Littera gotica humanística. Daraus ergäbe
sich allerdings die Einordnung solcher Schriften unter die gotischen, was ihrem gra¬
phischen Gesamtcharakter jedoch nicht entspräche, da sie meiner Meinung nach weit
richtiger an den Beginn der Entwicklung der Renaissance-Buchschriften eingereiht
werden müßten. Aus diesem Grund empfiehlt es sich wohl auch, vorläufig bei der
völlig zutreffenden Klassifikation und bisherigen Terminologie zu bleiben.
Die littera fere humanística des 14. und 15. Jahrhunderts ähnelt als Übergangsform
von der gotischen Schrift zur neokarolingischen Minuskel natürlich in vielem jener der
Übergangsschrift des 12. Jahrhunderts, als sich die karolingische Minuskel zur go¬
tischen Schrift wandelte. Die Entwicklung verlief also hier gerade umgekehrt als zwei
Jahrhunderte zuvor. Wenn auch schon die ersten Humanisten deutlich ihr Ideal einer
Buchschrift in der wiedergeborenen karolingischen Minuskel erblickten, gelang es
ihnen doch nicht, dies ohne Reste gotischer Elemente zu verwirklichen, und nicht
einmal Petrarca bildete hierbei eine Ausnahme. Aus erhalten gebliebenen Schrift¬
stücken von seiner eigenen Hand, wie zum Beispiel De sui ipsius et multorum igno-
rantia vom Jahre 1368 (Taf. XVI), wird deutlich, daß es vor allem Überbleibsel
technischer Art waren, derentwegen wir Petrarcas Schrift noch nicht als reine Mi¬
nuskel des Renaissancetypus ansehen können. Die kleine Schrift dieser Handschrift
ist mit einer sehr breit zugeschnittenen Feder geschrieben, die beim Auszirkeln der
runden Formen und beim Strichansatz und -Schluß der geraden Züge Schwierigkeiten
bereitet. Mit einer bestimmten, kaum merklichen Eckigkeit des sonst breiten Schrift¬
bildes ebenso wie mit der Zeichnung einiger Buchstaben erinnert Petrarcas Schrift
darum an die Rotunda, aber in der Zeichnung anderer Buchstaben kommt zweifellos
der Charakter der karolingischen Minuskel zum Ausdruck. Gotisch ist am Alphabet
dieser Schriften des 14. Jahrhunderts (Abb. 25) die Verwendungsweise zahlreicher
Ligaturen bei runden Buchstaben, wie bei den Zwillingen ba, be, bo, ci, co, et, de, do, pa,
pe und pv. Für eine gotische Schrift ist die Anwesenheit des runden r und die unzial-
artige Zeichnung des d nicht weniger kennzeichnend. Doch ist der Buchstabe a hier
in der karolingischen Form mit dem offenen oberen Bauch vertreten, und die untere
Schlinge des g dagegen völlig oder fast geschlossen.
Im ganzen ist die Schrift von Petrarcas Autograph nicht nur sehr ansehnlich und
ausdrucksvoll, sondern auch außergewöhnlich charakteristisch, so daß die deutsche
Paläographie es für notwendig hielt, sie als Petrarca-Schrift zu spezifizieren. Petrarcas
Wille, sich seinem kalligraphischen Ideal - der 'littera castigata et clara' - zu nähern,
ist hier mehr als deutlich. Dasselbe gilt wohl insgesamt auch von den übrigen Über¬
gangsschriften der besseren italienischen Handschriften des 14. Jahrhunderts, aber mit
der Verwendung einer weniger breit zugeschnittenen Feder wird die Schrift lichter
und verliert allmählich an Eckigkeit. Immer nachdrücklicher setzt sich die Horizon-
talität des Schriftbildes und der graphischen Gesamtwirkung der Textseite durch, so
daß sich solche Schriften in diese Gruppe nur durch die Zeichnung des runden r und
vor allem des unzialartigen d, und die ständig hohe Zahl an Ligaturen einreihen. In
den italienischen Handschriften des 15. Jahrhunderts überschritt die littera fere huma¬
nística den Scheitelpunkt ihrer Entwicklung. Neben der Rotunda und der neokarolin¬
gischen Minuskel besserer Handschriften macht sie sich immer seltener und wohl nur
dort geltend, wo es unmöglich war, der Handschrift mehr Zeit und Sorgfalt zu widmen.
Darum steht die littera fere humanistica mit ihrem Gesamtcharakter oft auch der
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HUMANISTISCHE MINUSKEL
Kursivschrift nicht fern. In vereinzelten besseren Handschriften des 15. Jahrhunderts
verliert sie bereits jede Spur eines gotischen Duktus, und an eine Schrift des gotischen
Typus erinnert nur die Anwesenheit der Unzialzeichnung des Buchstabens d, ebenso
wie die Benutzung des runden r gleichzeitig mit neokarolingischen Formen dieser
Buchstaben. Sonst hat, wie aus unserem Beispiel einer solchen Handschrift (Taf.
XVII) ersichtlich, die littera fere humanistica dieser Art den auf den ersten Blick
unverkennbaren Duktus der ausgereiften karolingischen Minuskel.
Die littera fere humanistica war zu ihrer Zeit nur eine Übergangsform und bloße
Vorstufe der Entwicklung zum Schreibideal der italienischen Humanisten, das eine
unverhältnismäßig bessere Replik der karolingischen Minuskel sehr bald erfüllte, eine
Schrift, die in der Paläographie seit langem unter der Bezeichnung HUMANISTI¬
SCHE MINUSKEL bekannt ist und neuerdings den Namen humanistica und huma¬
nistica rotunda (Battelli) trägt. Alle Reste der gotischen Schreibtradition wurden aus
dieser Hochform der italienischen Renaissance-Buchschrift des 15. Jahrhunderts von
der spontanen humanistischen Schriftreform restlos ausgemerzt; ihr Brennpunkt war
Florenz, das Zentrum und der Ausgangspunkt der humanistischen Bewegung über¬
haupt. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstand hier eine Schreibschule, die sich ihrer
Bedeutung nach zu Recht mit den älteren Kalligraphieschulen in Tours und Monte
Cassino messen kann. Ihrer Gründung ging das Sammlerfieber der Buchfreunde vor¬
aus, das nicht nur die Preise alter Handschriften der Klassiker hochtrieb, sondern
natürlich bald auch die Möglichkeit einer glücklichen Entdeckung einengte. Die
Gründung von Bibliotheken war also ohne neue Abschriften der geforderten Literatur
unmöglich, und hiezu bedurfte es geschulter Schreiber, die mit einer getreuen Ab¬
schrift des Textes die bewunderten Vorlagen auch in graphischer Hinsicht so zu re¬
produzieren vermochten, daß die Abschriften den Eindruck der Altertümlichkeit er¬
weckten. Initiator dieser kalligraphischen Tendenz war der berühmte Humanist Niccolò
Niccoli (1364-1437), der um 1425 in Florenz eine Schreibschule gründete und leitete,
wo die Kopisten sich darin übten, mit großer Genauigkeit jene gefällige runde Schrift
zu schreiben, die in Wirklichkeit, wie bereits erwähnt, nur eine neue und schönere
Replik jener der Handschriften des 9.-11. Jahrhunderts war. Die neue Schrift hatte
in literarischen Kreisen großen Erfolg, so daß sie um die Mitte des 15. Jahrhunderts
zur Schrift der gesamten Humanistenbewegung wurde; denn die Humanisten blickten
mit Verachtung auf die vorangegangenen mittelalterlichen Formen als gotische, bar¬
barische herab. Schön schreiben zu können wurde zur allgemeinen Forderung der
humanistisch Gebildeten, und viele von ihnen waren sogar als Kalligraphen berühmt,
wie etwa Tommaso Parentucelli aus Sarzano, der spätere Papst Nikolaus V. (1447-
l45I)> Giannozzo Manetti und natürlich auch Niccolò Niccoli und Poggio Bracciolini,
von dessen Hand die älteste bekannte mit humanistischer Minuskel geschriebene und
1402-1403 entstandene Handschrift stammt. Die Handschriften dieser Periode sind
wirklich prachtvoll, ihre Schrift ist bewundernswert regelmäßig und ihre Ausstattung
außergewöhnlich reich und schön. Es ist also nicht verwunderlich, daß die vornehmen
humanistischen Bibliophilen den eben aufkommenden Buchdruck als verachtenswerten
Ersatz betrachteten. Kardinal Bessarion zum Beispiel lehnte es ab, sich für diese bar¬
barische deutsche Erfindung zu interessieren, und ein anderer Bibliophile der Renais¬
sance, Federico, Herzog von Urbino, brüstete sich damit, daß er kein einziges ge¬
drucktes Buch besitze, weil dies für seine Bücherei eine Schande wäre.
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