KAPITEL II. DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
WIR HABEN im vorangegangenen Kapitel gesehen, daß die Entwicklung der Re¬
naissance-Majuskel um vieles bunter verlief, als gewöhnlich angenommen wird, und
daß sie in der Frühperiode zu Beginn des 15. Jahrhunderts an die vorgotischen Schrif¬
ten des 9.-12. Jahrhunderts anknüpfte, keineswegs also unmittelbar an die klassischen
altrömischen Muster des 1. und 2. Jahrhunderts. Zu dieser Orientierung der Inschrif¬
tenkunst der Renaissance kam es erst im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts; erst
seit dieser Zeit kann die Schrift der italienischen Renaissance-Inschriften als wieder¬
geborene, unmittelbar übernommene und getreu nachgeahmte altrömische Inschriften¬
schrift in ihrer klassischen Hochform anerkannt werden. Die Buchschriften der Re¬
naissance hatten zur Antike eine überhaupt nur indirekte und ferne Beziehung und
wurden niemals zu einem Abguß der altrömischen Muster, beispielsweise der klas¬
sischen Kapitale oder der sogenannten eleganten Kapitale, oder der Unziale. In der
Ablehnung alles Gotischen griffen die ersten Humanisten bei der Wahl der Schrift
ihrer Handschriften nicht einmal so weit in die Vergangenheit zurück; als Vorlage
nahmen sie eine Schrift, die im Laufe einer langen Entwicklung aus gemischten alt¬
römischen Buchschriften abgeleitet war, eine Schrift, mit der ein Großteil der zu
dieser Zeit in den Handschriften aus dem 9.-12. Jahrhundert noch zugänglichen la¬
teinischen Klassiker geschrieben war: die karolingische Minuskel. In den gewöhnlich
zugänglichen populären Schrifthandbüchern wird diese Renaissance der karolingischen
Buchschrift törichterweise häufig einem Irrtum der ersten Humanisten zugeschrieben,
die diese Minuskel verhältnismäßig später Abschriften der lateinischen Klassiker für
die ursprüngliche Buchschrift des alten Rom gehalten haben sollten; dieser Gedanke
ist jedoch völlig abwegig. Als die Humanisten beschlossen, sich diese schöne Schrift
anzueignen, war ihnen deren Ursprung kaum unbekannt. Dabei war nicht der Ur¬
sprung für sie entscheidend, sondern die hohe graphische Qualität der karolingischen
Minuskel, dieser höchsten Entwicklungsstufe der klassischen Buchschrift, und nur
darum wählten sie sie vorsätzlich und wissentlich zum Vorbild ihrer Buchschrift, und
zwar in der vollendeten runden romanischen Form. Den gallischen Ursprung der
humanistischen Buchschrift vergegenwärtigte sich zum Beispiel bereits Poggio Braccio¬
lini, und es liegt kein Grund dafür vor, ihn in dieser Beziehung für einen Einzelfall zu
halten. Überwiegendes Merkmal der frühen Renaissance war freilich nicht das Neue-
rertum, sondern vielmehr die Altertümelei der humanistischen Reformatoren, deren
ursprünglich recht amateurhafte Vorliebe im Widerstand gegen die scholastischen
Traditionen zum Ausdruck kam und sich zur Bewegung vereinigte ; und es waren die
gotischen Schriften, die in unserem Fall diese scholastischen Traditionen verkörperten.
In den Augen der Humanisten hatte die karolingische Minuskel im Vergleich zu den
gotischen Schriften begreiflicherweise klassische, antike Werte, die sie dadurch aus¬
drückten, daß sie ihre wiedergeborenen Formen litterae antiquae oder litterae antiquae
horum temporum oder italienisch lettere antiche nuove nannten. Mit der Klarheit und Ho-
rizontalität ihrer einfachen runden Zeichnung entsprach diese Schrift weitgehend den
Grundprinzipien des neuen Stils und war geeignet, zum adäquaten Ausdrucksmittel
der neuen Weltanschauung zu werden. Die Rückkehr zur vorgotischen Minuskel war
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LITTERA FERE HUMANÍSTICA
außerdem unter den gegebenen Umständen und im gegebenen Milieu völlig ver¬
ständlich, denn in Italien unterlag die karolingische Minuskel bekanntlich niemals
einer so konsequenten Gotisierung wie in den Ländern nördlich der Alpen, weshalb
auch der Übergang zu einer alt-neuen Buchschriftform hier keinen jähen Umschwung
bedeutete. Nichtsdestoweniger entledigte sich diese neue Renaissance- Buchschrift ein¬
schließlich der sie begleitenden Majuskel in Italien zunächst nicht sofort aller Spuren
der gotischen Schrifttradition.
Die Tradition der Schriften des gotischen Typus war im 14. und 15. Jahrhundert
im ganzen westlichen Europa einschließlich Italiens zu fest verwurzelt, als daß sich
der Umschwung der Entwicklung zu den humanistischen Buchschriftformen ohne den
Widerstand der gotischen Schreibgewohnheiten oder Stilreminiszenzen vollzogen hätte.
Darum begegnen wir bis zum Ende des 15. Jahrhunderts in Handschriften und noch
häufiger in Wiegendrucken einer Vielzahl von Schriften, an denen in verschiedenem
Maße der widersprüchliche Einfluß beider Schrifttypen sichtbar wird. Manchmal
überwiegen die Merkmale der gotischen Schriften, hauptsächlich der Rotunda, ein
andermal wieder die der neokarolingischen Minuskel; manchmal befinden sich auch
die Elemente beider Typen in ein und derselben Schrift im Gleichgewicht. Schriften
dieser Art bereiteten in der paläographischen und paläotypischen Klassifikation be¬
deutende Schwierigkeiten, da sie dem überwiegenden Charakter nach entweder unter
die gotischen oder unter die Renaissance-Schriften eingereiht, oder mehr als einmal
mit verschiedenen ungenauen Bezeichnungen versehen wurden, wie zum Beispiel semi¬
gotische Schrift, humanistisch-gotische Übergangsschrift usw. In der Renaissancezeit hatten
wohl nur die Franzosen für Schriften dieser Art eine Bezeichnung wie lettre de somme,
die auch Geoffroy Tory in seinem Buch Champfleury aus dem Jahre 1529 verwendet.
In Übereinstimmung mit den traditionellen Gepflogenheiten der typographischen
Terminologie wurde diese französische Bezeichnung ursprünglich aus der angeblich
ersten Verwendung dieser Schrift des Gotik-Renaissancetypus in dem Werk Summa
(Somme) des Thomas von Aquino in Peter Schöffers Ausgabe von 1467 abgeleitet.
Später bedient sich Fournier in seinem Handbuch Manuel typographique von 1764
der Bezeichnung lettre de somme für sehr verschiedene gotische Schriften, wie etwa
die Rotunda- und einige Bastardaschriften. Dasselbe Chaos in der Terminologie dauert
bis in unsere Tage an, wo wir ständig verschiedenen Bezeichnungen für den gleichen
Schrifttyp oder der gleichen Bezeichnung für Schriften von verschiedenem Typus
begegnen. In dieses Gebiet der Paläographie und Paläotypie brachten erst moderne
deutsche Forscher Ordnung, indem sie diese Schriften des Übergangstypus zu einer
besonderen Gruppe zusammenfaßten und mit dem Namen LITTERA FERE HU¬
MANÍSTICA (beinahe humanistisch) oder Gotico-Antiqua bezeichneten. Der erste
dieser Namen ist in der paläographischen Literatur geläufiger, obwohl man auch dort
häufig für Handschriftenschriften dieser Art die Bezeichnung Gotico-Antiqua ver¬
wendet, die wohl richtiger der Druckschrift vorbehalten bleiben sollte. Diese sehr
befriedigende Klassifikation scheint aber doch nicht die endgültige Lösung zu sein.
In einem neuen Vorschlag für die paläographische Terminologie der Buchschriften
des 9.-16. Jahrhunderts (Battelli-Bischoff-Lieftienck, Nomenclature des écritures livres¬
ques du IXe au XVIe siècle, 1954) verwendet G. Battelli die sehr ähnlich klingende
Bezeichnung Littera gotica prae-humanistica für die runde Hochform der italienischen
Buchschrift des 14. Jahrhunderts, also für die Rotunda, und für die gotisch-huma-
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