DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
Stecher, Professor an der Universität, Reformator der französischen Rechtschreibung
Korrektor, Zeichner von Schriftlettern, Kalligraph und schließlich königlicher Buch¬
drucker Franz I. Im Jahre 1529 gab er in Paris ein Buch heraus, an dem er seit 1523
gearbeitet hatte und das er Champfleury, Auquel est contenu L'art et Science de la
deue & vraye Proportion des Lettres Attiques, quon dit autrement Lettres Antiques,
& vulgairement Lettres Romaines, proportionees selon le Corps & Visage humain be¬
nannte. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt, deren erster der Analyse der französi¬
schen Sprache und einer Reform der französischen Rechtschreibung gewidmet ist.
Für uns ist allerdings der zweite Teil interessant, wo sich Tory mit dem Ursprung
und der Zeichnung der klassischen Lateinschrift auseinandersetzt. Ebenso wie Verini
zieht er weitgehende Schlußfolgerungen aus den Proportionen der einzelnen Buch¬
staben und den Proportionen des menschlichen Körpers und Gesichts, die er keines¬
wegs ohne merkliche Schwierigkeiten in geometrische Schemata hineinzwängt (Abb.
24), wobei er sich sichtlich an die Theorie Leonardo da Vincis anlehnt. Im dritten
Teil (Abb. 22, 23) versucht dann Tory die Richtigkeit seiner Ableitung mit der Kon¬
struktion aller Buchstaben des Alphabets zu beweisen, deren Gesamtheit man tatsäch¬
lich nicht alltägliche zeichnerische Qualitäten zugestehen muß, wenngleich sie uns
nicht nur verraten, wie ihn der von ihm so unterschätzte Luca PacioH bezauberte,
sondern uns gleichzeitig und unwillkürlich das Vergebliche und Gewaltsame seiner
Theorie enthüllen. Diese Theorie läßt sich nur schwer auf alle Buchstaben des Alpha¬
bets anwenden, dessen sämtliche zeichnerische Elemente Tory von den beiden Grund¬
buchstaben IO ableitet, einem Frauennamen aus der griechischen Mythologie. Insge¬
samt ist dieses Buch auch vom Standpunkt seiner Zeit bei aller Gelehrtheit recht
phantastisch und für die Zukunft nur wegen seiner Reform der französischen Recht¬
schreibung bedeutungsvoll. Die Schriftkunst Torys hatte aber zweifelsfrei bedeutenden
Einfluß auf die Entwicklung der französischen Schrift im allgemeinen und auf die
französischen Schriftlettern des Renaissancetypus und ihre Emanzipation aus den
Überbleibseln der Handschriftentechnik im besonderen. Diese Entwicklung vermochte
allerdings Torys Alphabet der nichtkonstruierten lettres latines nicht zu beeinflussen,
das ebenfalls in seinem Champfleury angeführt und hauptsächlich dadurch bemerkens¬
wert ist, wie wenig seine Zeichnung die schönen Ergebnisse seiner vorangegangenen
Konstruktionen widerspiegelt. Übrigens wird in der französischen Schriftkunst der
Renaissance die konstruierte lateinische Majuskel nach der Zeit Torys sehr selten, und
nur vereinzelt, wie zum Beispiel in der Lyoner Sammlung Trésor d'Ecriture des Kalli¬
graphen J. de Beau-Chesne aus dem Jahre 1580 (Taf. XIII), erscheint sie in Publika¬
tionen dieser Art und Zeit.
Beispielen einer musterhaften Inschriften-Majuskel begegnen wir in der Renaissance
auch an anderer Stelle, wie zum Beispiel in schriftkünstlerischen Publikationen, unter
denen Arte subtilissima por la quai se enseña a escrivir perfectamente, erstmalig 1547
von Juan de Yciar in Madrid herausgegeben, seinerzeit größten Widerhall fand, bis
heute größte Aufmerksamkeit verdient und hier auch bereits zitiert wurde. Das hohe
Niveau der Kalligraphie der spanischen Renaissance bestätigt in dieser Beziehung
auch Francisco Lucas mit seiner Sammlung Arte de Escrivir, die nach ihrer ersten
Auflage von 1577 in den Jahren 1580 und 1608 nachgedruckt wurde. In diesen beiden
Sammlungen, die wir in weiteren Kapiteln unserer Übersicht noch einmal einer Be¬
trachtung unterziehen werden, sind neben vielen anderen Schriften zwar auch schöne
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