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20. Konstruierte Renaissance-Majuskel. Wolfgang Fugger, 1553.
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KONSTRUIERTE RENAISSANCE-MAJUSKEL
spiriert von Vitruvius konstruiert er hier in ein Quadrat mit neunfach geteilten Seiten
alle Buchstaben des Alphabets, wobei er mit dem I als leichtestem und grundsätzlichstem
Buchstaben beginnt und mit der kompliziertesten Konstruktion, der des S, schließt
(Taf. XI). Die eigentlichen Konstruktionen der einzelnen Buchstaben (Abb. 20) be¬
gleitet er mit den zugehörigen Resultaten; man kann diese allerdings nicht in jedem
Fall als besonders glücklich bezeichnen. So etwa sind die nicht an den Schaft ange¬
fügten Bäuche der Buchstaben В und R, das sehr schmale Bild des M mit den steilen
Schäften und die zu stark geneigte Achse der Schattenstriche der Buchstaben О und
Gerecht erhebliche Unzulänglichkeiten.
Wolfgang Fugger machte am Ende seines Büchleins, das in den Jahren 1597-1605
in zweiter Auflage herauskam, seinem Lehrer Johann Neudörffer d. Ä. alle Ehre.
Von diesem erschien aber zu Lebzeiten kein Lehrbuch der Konstruktion von Renais¬
sance-Majuskeln. Erst lange nach seinem Tode, im Jahre 1660, gab Johann Hofmann
in Nürnberg unter seinem Namen die 'Gründliche Fundamental: und circularische
Austheilung und Aufreissung der alten Romanischen Versahen' heraus, eine Kon¬
struktionsanleitung für ein lateinisches Majuskelalphabet (Taf. XII), das in seinen
Grundsätzen mit den Konstruktionen Wolfgang Fuggers überraschend übereinstimmt.
Wenn wir diese beiden Konstruktionen miteinander vergleichen (Abb. 20, 21), finden
wir, daß sie sich nur in einem einzigen Falle unterscheiden, nämlich in der Konstruk¬
tion des Buchstabens M, wobei man anerkennen muß, daß das Neudörffersche Er¬
gebnis ungleich gelungener ist. Aus der Übereinstimmung beider Konstruktionssysteme
wurde schon früher auf eine Priorität der Urheberschaft Johann Neudörffers geschlos¬
sen, was auch eine Bemerkung im Text seines Hauptwerkes aus dem Jahre 1538 Eine
gute Ordnung vnd kurtze vnterricht etc. bestätigt, wo er die Herausgabe eines be¬
sonderen Büchleins zum Thema 'austaylung' des großen lateinischen Alphabets an¬
kündigt. Das hat neuerdings die Entdeckung einer Neudörfferschen Handschrift mit
dem Titel Grundlicher bericht der alten Lateinischen Buchstaben etc. in einem Wiener
Museum nachgewiesen, zweifellos der Handschrift jener zur Veröffentlichung vor¬
bereiteten Publikation, zu deren Drucklegung es jedoch offenbar nicht kam. Die Hand¬
schrift zeigt die Konstruktion von 23 Buchstaben des Alphabets, aber ohne erläuternden
Text. Von der Konstruktion W. Fuggers aus dem Jahre 1553 und jener der Ausgabe
Hofmanns von 1660 unterscheidet sich die Neudörffersche Handschrift aus der Zeit
um 1538 im wesentlichen nur durch die Einteilung des Quadrates in zehn Felder. Die
Konstruktion des Buchstabens M entspricht der Hofmannschen Ausgabe, obwohl sie
etwas komplizierter ist. Es ist also evident, daß sich nach Dürer mit der Konstruktion
von Renaissance-Majuskeln in Deutschland schon Johann Neudörffer d. Ä. beschäftigte
und erst nach ihm und nach seinem Beispiel Wolfgang Fugger. Auf Fugger folgten
dann viele weitere deutsche Kalligraphen bis weit in die Periode des Barocks, wie wir
an entsprechender Stelle noch nachweisen werden.
Nicht lange nach Dürers Buch erschien auch in Frankreich ein Traktat, dessen
Bedeutung für die französische Schriftkunst bestimmt die gleiche war wie die der
Dürerschen Arbeit in Deutschland und zuvor der Divina Proportione L. Paciolis in
Italien. Autor dieses in der Fachliteratur so häufig genannten, oft überschätzten und
auch hier schon zitierten berühmten französischen Buches ist Geoffroy Tory (etwa
1480-1553), ein universeller Künstler von jenem Typus, wie ihn das 16. Jahrhundert
hervorbrachte. Dieser Franzose aus Bourges war Maler, Dichter, Übersetzer, Kritiker,
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