KONKLUSION
gewöhnlich als Argumente für die Verteidigung der notwendigen Existenz einer grö¬
ßeren Zahl von Schriften verschiedener Stiltypen angeführt. Um alle diese Anforde¬
rungen zu erfüllen, ist es jedoch nicht notwendig, sich in jedem Fall mit einer Schrift
anderen Schnittes zu behelfen. Vielleicht wurde für alle Fälle eine komplette Serie
einer einzigen Schrift mit verschiedenen Varianten der Proportionen und der Fette
einer einzigen Schriftzeichnung genügen, und von solchen Ensembles stehen heute
schon mehr als genug zur Verfügung, wenn wir uns nur etwa an das Ensemble der
Schrift Times New Roman erinnern, bei dessen Herstellung an alle Verwendungs¬
möglichkeiten gedacht wurde.
Man kann jedoch angeblich die Mannigfaltigkeit der Stile, die das Jahrhundert des
schriftkünstlerischen Historismus in die zeitgenössischen Schriften hineintrug, nicht
als wertvolle Möglichkeit übersehen, sich auch mit dem Satz Geist und Zeit der Be¬
gebenheit oder Entstehung des literarischen Werkes zu nähern. Ist dies aber wirklich
ein großer Vorzug des heutigen Buchdrucks im Vergleich zu ähnlichen Möglichkeiten
der alten Drucker? Waren sie nicht gerade dadurch im Vorteil, daß sie von Versuchen
ähnlicher historisierender Nachahmungen verschont blieben? Wie wir sehen, ist der
Überfluß an Schriften verschiedener Stiltypen in der heutigen Typographie auch von
dieser Seite her zweifelhaft. Wir müssen uns aber vorläufig damit als mit einem ge¬
gebenen und in absehbarer Zeit nicht zu verändernden Zustand abfinden, denn nach¬
dem wir uns überzeugt haben, daß auch die sogenannten modernen Originalschriften
beinahe alle von der Vergangenheit abhängig sind, kann man keine überspannten
Hoffnungen auf eine baldige Veränderung hegen.
Die Dinge der Schrift sind im übrigen so stark mit einer jahrhundertealten Konven¬
tion verbunden, daß jeder Versuch einer radikalen Reform notwendigerweise scheitern
muß. Doch haben auch weniger radikale Bemühungen keine besseren Aussichten, da
sie an keine direkte fortdauernde Tradition anknüpfen können, die gewaltsam und
angeblich definitiv von der Schrifterneuerungsbewegung der Neorenaissance unter¬
brochen wurde. Das moderne Schriftschaffen befindet sich also in einer so schwierigen
Situation, wie sie die Schriftkunst der Vergangenheit niemals erlebte. Ihre Möglich¬
keiten sind endlich durch die äußerste Stabilisierung der Konstruktion der Latein¬
schrift auf einige unwesentliche, wenn auch ästhetisch sehr bedeutungsvolle Details
beschränkt worden, aber alle diese Möglichkeiten formaler Variationen auf ein ein¬
ziges Thema sind wahrscheinlich der völligen Ausschöpfung schon sehr nahe. Im Ver¬
gleich zu den heutigen Verhältnissen in der industriellen Buchproduktion hatten die
alten Schreiber der Kodizes eine beneidenswerte und doch nur selten mißbrauchte
Freiheit in der Schöpfung formaler Varianten einer zeitgenössischen Schrift. Heute
aber muß jede Veränderung, Verbesserung oder Modifikation des Schriftbildes ganz
unauffällig oder fast unsichtbar sein. Die Angelegenheit einer neuen Form oder Re¬
form der Schrift ist nicht mehr ausschließlich Sache eines kleinen Kreises von Ein¬
geweihten wie zu der Zeit, als Bildung und Erziehung das Vorrecht einer dünnen
Gesellschaftsschicht waren. Heute, in der Zeit einer allgemeinen Verbreitung der
Bildung und eines modern extensiven Lesens, in einer Zeit, da sich niemand mehr mit
Schönschrift belastet, wurde unser Alphabet praktisch bereits einer Reform unzu¬
gänglich.
Die Erstarrung in der Entwicklung unserer Schrift datiert also seit der Schrifter¬
neuerungsbewegung, die uns zwar aus der vermeintlichen Sackgasse des Klassizismus
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herausgeführt hat, aber nur, um uns sofort in die nicht weniger auswegslose Gasse
des Historismus zu führen. Es zeigt sich, daß die Beiträge von Gh. Wittingham,
L. Perrin, William Morris und Edward Johnston zwar in verschiedener Beziehung
verdienstvoll, auf dem Gebiet des Schriftschaffens aber eher eine Reaktion als eine
Renaissance darstellen. Dies gibt sogar Stanley Morison zu, der meint, daß Edward
Johnston vielleicht und die Vertreter seiner kalligraphischen Schule ganz bestimmt
allzu verliebt und ausschließlich auf die vorhumanistischen Handschriften blickten.
Die Johnstonsche Schule habe sich bemüht, die Drucker zum Stand des Buchschaffens
und der Schriftkunst des 8. Jahrhunderts, wenn nicht gar in eine noch ältere Zeit
zurückzuführen. Stanley Morison sagt schließlich in seiner Arbeit Towards an Ideal
Type: '...würde ich mir eine Einschränkung des bewußten oder unbewußten Ar¬
chaismus wünschen, der zur Zeit die Johnstonsche Schule charakterisiert. Ich möchte,
daß sie ihre Kunst in Übereinstimmung zum Buchdruck und... zum Zeitgeist bringen'.
Es ist bemerkenswert, daß dies gerade jener hervorragende Fachmann sagt, der sich
selbst um das historisierende Aussehen der zeitgenössischen Typographie nicht geringe
Verdienste erworben hat. Als schriftkünstlerischer Berater der englischer Monotype
Co. leitete er seine Tätigkeit mit dem Grundsatz ein, es sei notwendig, daß sich die
Öffentlichkeit erst daran gewöhne, die Qualitäten der Schriftzeichnung der alten
Meister zu schätzen, bevor es möglich wird, sich an eine neue und wirklich moderne
Schrift heranzuwagen. Nach demselben Prinzip gingen gleichzeitig und auch schon
früher andere Schriftgießereien der Welt zuwege, doch ist - wenn wir den vorbe¬
reitenden Zeitabschnitt als abgeschlossen betrachten können - das erwartete Resultat
bisher nicht deutlich genug in Erscheinung getreten, und auch Stanley Morison (Type
Designs) gibt zu, daß dort, wo in der Schriftzeichnung alte Muster verlassen wurden,
die Ergebnisse nicht als glücklich bezeichnet werden können. Die Schwierigkeiten,
einen allseits zufriedenstellenden und wirklich neuen Schnitt einer beliebigen Schrift,
aber hauptsächlich einer Buchschrift zu schaffen, sind also anscheinend unüberwindlich.
So verdienstvoll die Anstrengungen der modernen Schriftkunst auch sind, die bereits
viele und bewundernswerte Ergebnisse in Form von zeichnerisch makellosen und
schüren Schriften aufweist, können wir uns doch des Gefühls nicht erwehren, daß das
Hauptziel bisher nicht erreicht wurde. Die scheinbare Fruchtlosigkeit dieses bisherigen
Bemühens könnte also zu der Schlußfolgerung verleiten, daß es am Ende vielleicht
besser wäre, bei den alten, bewährten, unserem ästhetischen Fühlen immer so nahen
und bisher unübertroffenen Schriften Jensons, Garamonds, Fourniers, Baskervilles und
Didots zu bleiben und den Schriftgußmarkt der Welt und die Typographie nicht mit
einem endlosen Strom neuer und wieder neuer, vorwiegend durch kommerzielle In¬
teressen bedingter Paraphrasen und Kompilationen dieser prächtigen Prototypen zu
überschwemmen. Kann eine solche Lösung der Problematik des heutigen Entwick¬
lungsstands der Lateinschrift nicht als ziemlich feiger Rückzug bezeichnet werden,
und in welcher Richtung sollte denn in Zukunft diese Entwicklung verlaufen, um sich
aus der Sackgasse der Gegenwart herauszuwinden? Dieser Weg kann die Kalligraphie
ganz zweifelsfrei nicht sein, denn Typographie und Kalligraphie sind zwei dem Wesen
nach verschiedene Dinge (Jan van Krimpen). Es zeigt sich immer bestimmter, daß die
Rückkehr zur Typographie der Renaissance oder gar zur Schreibkunst des frühen
Mittelalters auch nicht der wahre Weg ist. Andererseits wäre es sehr kühn, vorauszu¬
sagen, welche der gegenwärtigen Formen zu einer weiteren Stufe der Entwicklung
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