DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
Druckschrift geboten wurde, an der er sich schon ungefähr seit 1915 versuchte. In
seinem künstlerischen Nachlaß hat man bisher fünf verschiedene Entwürfe von An¬
tiquaschriften und drei Entwürfe von Italikaschriften gefunden. Leider handelt es
sich jedoch größtenteils um bloße Fragmente, die Zeugnis davon ablegen, wie zäh
Brunner mit diesem Problem rang. Darüber hinaus ist eine seiner Antiquaschriften,
die etwa aus dem Jahre 1919 stammte und deren Realisierung in das Stadium tech¬
nischer Versuche gelangt war, in beinahe kompletten Abdrucken erhalten geblieben,
so daß es uns möglich war, daraus das hier reproduzierte Alphabet zusammenzustellen
(Abb. 339). Diese Antiqua ist für das graphische Schaffen V. H. Brunners sehr typisch,
sowohl mit dem großen Minuskelbild und der charakteristischen Form der Serifen
wie mit der Form und Plazierung der Akzente und insbesondere der rein Brunnerschen
Zeichnung einiger Buchstaben, wie z. B. des G, J, S, a, g, p, r. Mit der technischen
Realisierung seiner Schriften hatte auch Jaroslav Benda kein größeres Glück. Er war
der dritte aus diesem Dreigespann führender Vertreter der so orientierten tschechi¬
schen Schriftkunst und des tschechischen Buchschaffens, obwohl der Entwurf einer
seiner Schriften, einer individuell konzipierten Antiqua und Italika aus dem Jahre
1923, bis zum Stadium eines Probeschnittes heranreifte (Abb. 340). Zum Unterschied
von den beiden Vorgenannten räumte Benda Fragen der Schrift den ersten Platz in
seiner Tätigkeit ein und zeichnete sich als Schriftkünstler durch eine viel ausgeprägtere
Orthodoxie hinsichthch der Grundsätze der morrisschen und johnstonschen Bewegung
aus. Sein Ideal war deshalb gleichermaßen das schöne Schriftschaffen des frühen Mit¬
telalters wie der Frührenaissance, und vom Studium der Unziale, Halbunziale, der
karolingischen und humanistischen Minuskel gelangte er zur Zeichnung der eigenen,
sehr eigenartigen Schriften seiner zahllosen handschriftlichen Originale, Adressen,
Diplome u. ä. Obwohl Benda hier das hohe Niveau der internationalen Kalligraphie
johnstonscher Prägung erreichte, fand er doch keine Lösung des Problems einer na¬
tionalen Schrift.
In der einfachen, nichtornamentalen Schrift ist das offensichtlich ein außergewöhn¬
lich schwieriges, wenn nicht überhaupt unlösbares Problem. Denn was macht eigent¬
lich den Nationalcharakter einer Schrift aus? Das Tschechische der tschechischen
Bastarda besteht im wesentlichen aus einer bloßen Beugung und dem Elefantenrüssel
einiger Züge. Erinnern wir uns, in welch geringen Abweichungen der französische
Nationalcharakter der garamondschen Antiqua, dieser akklimatisierten italienischen
aldinschen Antiqua zum Ausdruck kommt, oder wiederum der nationale Charakter
der niederländischen Version der Antiqua französischen Schnittes. Und je weiter die
formale Entwicklung der Lateinschrift, die an sich für das gesamte westeuropäische
Kulturgebiet gültig ist, voranschreitet, desto weniger bleibt an nationalem Unter¬
schied im Ausdruck übrig. Einige Kenner meinen jedoch, daß es wohl etwas feige
wäre, sich mit diesen so unüberwindlich aussehenden Schwierigkeiten abzufinden und
das einförmige Grau einer international uniformen Schriftzeichnung zuzulassen. Es sei
darum notwendig, jeden Versuch eines eigenen schriftkünstlerischen Ausdrucks zu
begrüßen, wo er sich immer zeige. Wie wir jedoch gesehen haben, sind die bisher
erzielten Ergebnisse in dieser Beziehung keineswegs überzeugend, denn man bemerkt
keineswegs, daß zum Beispiel in den Schriften von F. W. Goudy und Eric Gill etwas
so ausdrücklich Amerikanisches oder Enghsches enthalten ist, selbst wenn die Schrift¬
kunst dieser Meister für die Typographie ihrer Länder typisch wäre.
520
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Stûvxyzae;
33g. V. H. Brunner: Entwurf einer Antiqua.
Etwa aus dem Jahre igig.