DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
es aherdings auch so noch genug gibt, besonders in Ländern, wo man - wie zum Bei¬
spiel in England - Fragen der Schrift eine erhöhte Aufmerksamkeit widmet. Den
modernen Pädagogen und schließlich auch jedem modernen schreibenden Menschen
entspricht wohl schheßhch am besten die Grundform, der sogenannte normale Duktus,
zu dem man allenthalben mit recht kleinen Abweichungen durch bloße Vereinfachung
der Zeichnung der klassizistischen Schreibschrift gelangte. Entfernt wurden einige
überflüssige kalligraphische Bögen und vor allem der Strichstärkewechsel als Zuge¬
ständnis an die Ausdrucksmöghchkeiten der üblichen Füllhalter. Die so vereinfachte
unformale Kursiv kann sich zwar mit ihrem grundlegenden Duktus in ästhetischer
Beziehung bei weitem nicht mit den schönen kursiven Schriften jener Zeiten ver¬
gleichen, da zum Schreiben unverhältnismäßig mehr Zeit zur Verfügung stand; da¬
gegen kann man mit ihr schnell und mit unvergleichlich geringerer Anstrengung
schreiben. Darüber hinaus ist sie ein richtiger schöpferischer Rohstoff, der in der Hand
des gebildeten Schreibers ästhetische Quahtäten des persönlichen Ausdrucks gewinnt.
Der Verlust der universellen, allgemeingültigen ästhetischen Form des kalligraphi¬
schen Typus wird in der zeitgenössischen Kursiv durch einen Gewinn in Form von
größerer Freiheit des individuellen Ausdrucks der Schrift jedes einzelnen aufgewogen.
Und gerade mit dem Maß dieses persönlichen Ausdrucks wird heute auch die Schön¬
heit der Handschrift unserer Zeitgenossen gemessen. Individuelle Modifikationen des
zeitgenössischen Normalduktus werden auch, wie bereits erwähnt, von zahlreichen
modernen Schreibdruckschriften nachgeahmt, unter deren Proben wir zugleich einige
Beispiele moderner geläufiger handschriftlicher Schriften finden.
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MEINER Ansicht nach darf in einem Buch über die Schrift aus der Feder eines tsche¬
chischen Autors eine ausführliche Überschau der modernen tschechischen Schrift¬
kunst, von der die Fachöffenthchkeit des Auslands meist nur wenig gehört hat, nicht
fehlen. Das ist durchaus begreiflich, denn der tschechische Anteil an der formalen
Entwicklung der Lateinschrift war bisher, wie wir gesehen haben, nur sehr klein, und
wir können tatsächhch in der ganzen Periode vom Ausgang des Mittelalters bis zum
ersten Weltkrieg nur einen einzigen bedeutenden Beitrag nachweisen, nämlich die
tschechische Bastarda des 15. Jahrhunderts, die jedoch einen gewissen Einfluß auf die
weitere Entwicklung einiger anderer Schriften des gotischen Tygas hatte. Dieser durch
eine Reihe hier bereits angeführter Umstände leicht erklärliche Mangel wurde in
Böhmen niemals sehr schwerwiegend empfunden, bis hier im ersten Jahrzehnt unseres
Jahrhunderts Bestrebungen auftraten, mit dem zeitgenössischen Schriftgeschehen der
Welt Schritt zu halten, was jedoch zunächst auf Hindernisse vorwiegend finanzieller
und technischer Art stieß. Erst nach 1918 ergab sich in der tschechischen Typographie
Gelegenheit zur Realisierung einiger Versuche, die weltweiten Bemühungen um einen
modernen schriftkünstlerischen Ausdruck zu unterstützen, wobei die Leitidee in diesen
Jahren des erwachten nationalen Selbstbewußtseins - ähnlich wie in der Architektur,
der bildenden Kunst und dem Kunsthandwerk - das Streben nach einer spezifisch
nationalen Form war, die von allem Fremden emanzipiert und unterschieden sein
wollte. Die Frage nach einer nationalen Schrift taucht in Böhmen zu dieser Zeit aller¬
dings nicht erstmahg auf. Auf das gleiche Problem stieß schon der Maler Josef Mânes,
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MODERNE TSCHECHISCHE SCHRIFTKUNST
als er es um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit solchen Aufgaben zu tun hatte, die
eine in die zeichnerische und malerische Komposition eingeghederte Schrift erfor¬
derten. Mangels anderer Möghchkeiten suchte Manes Vorlagen in alten Handschrif¬
ten, er studierte die Schrift und Ornamentik alter Initialen und gelangte auf diesem
Wege zu einer eigenen Schrift, die konstruktiv aus der Unziale und mittelalterlichen
Modifikationen der Quadrat-Majuskel abgeleitet ist. Den nationalen tschechischen
Charakter verheh er seinem solchermaßen auf universalen, nichtnationalen histori¬
schen Vorbildern begründeten Alphabet sodann hier durch reichere, dort durch ein¬
fachere dekorative Elemente, die er aus der tschechischen Volksornamentik schöpfte.
Das Ergebnis war eine Schrift, die sich in bemerkenswerter Weise mit der typisch
tschechischen Zeichnung des Künstlers zu einer vollendeten Einheit der Gesamtkom¬
position verband. Nach Manes' Beispiel versah später auch Mikolás Ales (1852-1913)
seine Zeichnungen mit Begleitschriften, die aus historischen Vorbildern abgeleitet
waren, aber sein Schriftenregister war dem Umfang und der Vielseitigkeit seines
zeichnerischen Schaffens entsprechend viel reicher. In den Inschriften größerer Ar¬
beiten und in den Überschriften kleinerer Zeichnungen stützte er sich größtenteils auf
historische Muster von Majuskelschriften, Unziale und gotischen Majuskeln, denen
er ebenfalls durch Elemente folkloristischer Ornamentik nationalen Charakter verlieh.
Die längeren Texte der von ihm illustrierten Volkslieder und -Sprüche schrieb oder
zeichnete er am liebsten mit Schriften des gotischen Typus, Schwabacher und Fraktur,
wodurch er diesem vor allem dem Volk gewidmeten Werk einen volkstümlicheren
Charakter verlieh, zu einer Zeit, da mit Schwabacher und Fraktur gedruckte Volks¬
gebetbücher und -kalender in den böhmischen Dörfern noch geläufig waren. Obwohl
es sich hier um Schriften deutscher Herkunft handelt, gelang es Ales, ihnen auch ohne
Verwendung nationaler Ornamente etwas vom tschechischen Wesen seiner zeichne¬
rischen Handschrift zu verleihen. Dasselbe gilt freilich auch dort, wo sich Ales ent¬
schloß, nachgotische Schriftformen zu verwenden.
Aus diesem Erbe der Maler Josef Manes und Mikolás Ales schöpfte auch eine
Gruppe von Künstlern jener Generation, die nach dem ersten Weltkrieg die Ent¬
wicklungsrichtung der Prager Kunstgewerbeschule bestimmte. In dem Bemühen, der
tschechischen modernen Architektur und dem Kunsthandwerk einen sichtbar tsche¬
chischen Charakter zu verleihen, bheben sie jedoch größtenteils nur an der Oberfläche,
sie brachten es keineswegs zu einer nationalen Architektur, sondern nur zu einem
'nationalen' Dekor der Fassade. Durch Verzierungen solcher Art zeichneten sich
viele ornamentale Schriften aus, mit denen Frantisek Kysela - ein führender Vertreter
dieser Teilrichtung der damaligen tschechischen angewandten Kunst - seine graphi¬
schen und anderen Entwürfe auf dem Gebiet des Kunsthandwerks versah. Als rein
dekorativ müssen auch einige seiner bedeutsamen Eingriffe in die Schriftkonstruk¬
tionen gelten, z. B. seine beliebte Form des Buchstabens A in Gestalt eines spiegel¬
verkehrten R. Dort, wo Kysela unverzierte Schriften schuf, verrät seine Schriftkunst
ihre Zugehörigkeit zur Kalhgraphieschule E. Johnstons. Aus derselben Schule ging
auch ein weiterer Vertreter dieser Richtung hervor, V. H. Brunner, aber seine Abhän¬
gigkeit von ihren Dogmen lockerte sich durch die ständige Mitarbeit an der üblichen
Buchproduktion und die dauernde Berührung mit der modernen polygraphischen
Industrie. Es ist bedauerlich, daß diesem Künstler, der die Bedürfnisse der modernen
Typographie so gut verstand, keine Gelegenheit zur technischen Realisierung der
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