DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
Eine viel bedeutsamere und umfangreichere Gruppe als in der Akzidenztypogra¬
phie des 19. Jahrhunderts stehen heute die Druckkopien der übhchen Kursiv dar, die
modernen Schreibdruckschriften, die sich anscheinend in vielen Fällen mit Recht die Ehre
erwarben, als wirklich moderne, der Vergangenheit in nichts direkt tributpflichtige
Schriften angesehen zu werden. Von der unformalen üblichen zeitgenössischen Kursiv
ausgehend, kamen die Dessinateure der Schreibdruckschriften in dieser Richtung un¬
zweifelhaft am weitesten; aber ihre Verdienste können dennoch nicht allzu hoch ge¬
wertet werden, denn die Hindernisse, die von ihnen wohl überwunden werden mußten,
sind mit den Schwierigkeiten der Schaffung einer modernen Buchschriftzeichnung gar
nicht zu vergleichen. Von der Leichtigkeit, solche moderne Druckskripten hervorzu¬
bringen, zeugt schheßhch auch die außergewöhnhch große Zahl qualitativ hochste¬
hender Schriften, deren Übersicht wir leider auf eine sehr bescheidene Auswahl be¬
schränken müssen. In modernen Akzidenzsetzereien finden wir aber nicht nur moderne
Schreibdruckschriften, sondern wir begegnen dort immer noch der klassizistischen
Kursiv des 19. Jahrhunderts in Gestalt der Schrift Anglaise, deren ästhetische Vorzüge
in den entsprechenden Grenzen ihrer Verwendungsmöglichkeiten der typographische
Konstruktivismus erneut entdeckt hat. In den Musterbüchern der Drucker kommen
aber auch heute noch kalligraphische Varianten der Barockschreibschriften vor, die in
der Zeit nach 1900 so beliebt und charakteristisch waren, wie z. B. die Schrift Pompa¬
dour der deutschen Schriftgießerei Benjamin Krebs in Frankfurt aus dem Jahre 1909
oder die Schrift Watteau A. Kaysers aus dem Jahre 1910, die die Firma J. G. Schelter
& Giesecke in Leipzig herausgab. Viel Gemeinsames mit diesen Schriften haben auch
die ersten Versuche, einen modernen kalligraphischen Ausdruck zu erzielen, und zu
diesen müssen wir etwa die Bernhard-Schönschrift der Frankfurter Fabrik Bauersche
Gießerei zählen, eine sehr persönhch geschriebene, aber von den barocken Vorbildern
noch nicht völhg freie Schrift des führenden deutschen Schreibkünstlers Lucian Bern¬
hard aus dem Jahre 1923, die auch von der Firma Stephenson Blake unter dem Namen
Madonna abgegossen wurde.
Zur Massenproduktion wirklich moderner Schreibdruckschriften kam es in allen
Schriftgießereien der Welt eigentlich erst am Ende der zwanziger und hauptsächhch
in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, als einige wirklich bemerkenswerte
Schriften entstanden. Nach dem Charakter des Duktus sind das Schriften von zweierlei
Art, einerseits mit einem mehr oder weniger kontrastreich schattierten Strich ge¬
schriebene, als sei dieser mit einer weichen oder breit zugeschnittenen Feder gezogen,
andererseits mit einem gleichmäßig starken und überhaupt nicht differenzierten Strich
gezeichnete, der in den mageren Varianten solcher Schriften an den Duktus der
Füllfeder erinnert. Von den Schriften der ersten Gattung sei ab Beispiel die ameri¬
kanische Coronet erwähnt, die in den Jahren 1937-1938 R. H. Middleton schuf und die
Gesellschaft Ludlow Typograph Co. herstellte (Abb. 334). In Europa ist eine ihr sehr
ähnhche Schrift Martin Wilkes viel bekannter und verbreiteter, die Diskus der Berliner
Schriftgießerei H. Berthold AG aus dem Jahre 1938, die ebenfalls mit energischem und
kontrastreichem Duktus, aber in der Zeichnung der einzelnen Buchstaben abweichend
geschrieben ist (Abb. 333). Aus diesen beiden Schriften wird die vorherrschende cha¬
rakteristische Eigenschaft aller modernen Schreibdruckschriften deuthch, nämhch die
ganz unformale, unkalhgraphische Flüchtigkeit einer gewöhnlichen Schreibschrift des
alltäglichen Gebrauchs, also eine Eigenschaft, mit der sich die modernen Schreib-
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333. Diskus. Martin Wilke; H. Berthold, 1938.
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