DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
z. B. die Schrift Neuland der Schriftgießerei Gebr. Klingspor in Offenbach a. M. aus
dem Jahre 1923, ein wirklich bemerkenswertes Werk Rudolf Kochs (Abb. 330). Das
Grundbild der Grotesk ist hier unregelmäßig beschnitten, aber mit einer solchen schrift¬
künstlerischen Erfahrung, daß das Ergebnis eine nicht nur graphisch, sondern auch
ästhetisch wirkungsvolle Schrift darstellt. Aus derselben Familie stammt die ornamen¬
tale Schrift Echo der Firma Schriftguß AG aus dem Jahre 1938 (Abb. 328), im we¬
sentlichen eine flächige, stark beschnittene Kontur-Grotesk, deren ausgeprägt räum¬
lichen Eindruck der hinter das Schriftbild geworfene Schatten erzielt.
Eine keineswegs unbedeutende Gruppe unter den heutigen Akzidenzschriften bildet
die moderne Grotesk-Antiqua, aber auch hier gibt es keinen Überfluß an graphisch wirk¬
lich wertvollen Schriften. Den Großteil stellen ephemere Schriften zweifelhaften
Schnittes dar, deren Aufgabe es war, um jeden Preis irgendwie aufzufallen. Es ist aber
interessant, daß unter diesen Grotesk-Antiquaschriften jene mit uniformer Breite der
Groteskzüge und mit antiquahaften Serifen in entschiedener Minderheit sind. Das
Übergewicht hat dagegen die zweite Grotesk-Antiquaform, nämhch die Antiqua¬
zeichnung mit Strichstärkewechsel, aber ohne Serifen oder mit geringen Andeutungen
solcher, wie z. B. in der ausgezeichneten Schrift Atrax von Heinrich Jost, die die Firma
Bauersche Gießerei im Jahre 1926 herausgab (Abb. 310). Häufiger kommen gänzhch
serifenlose ältere Grotesk-Antiquaschriften mit gewöhnlich übertriebenem Kontrast
zwischen den dünnen und fetten Zügen vor, z. B. die Schrift Fatima von K. H. Schae-
fer, die ursprünglich von der Firma Schriftguß AG und dann im Jahre 1933 unter
dem Namen Atlas von der Pariser Fabrik Fonderie Typographique Française heraus¬
gegeben wurde.
Die modernen Grotesk-Antiquaschriften wurden aber nicht nur in Ensembles von
Versahen hergestellt, sondern auch in kleinen Alphabeten, und unter den so ausgestat¬
teten Schriften verdienen zwei neuere Grotesk-Antiquaschriften besondere Aufmerk¬
samkeit, eine amerikanische und eine französische. Im amerikanischen Schriftschaffen
ist die Grotesk-Antiqua übrigens ziemhch zahlreich vertreten, und erwähnenswert ist,
daß selbst F. W. Goudy mehrere Schriften dieser Art schuf und sogar mit der Grotesk-
Antiqua Camelot 1896 seine schriftkünstlerische Tätigkeit einleitete. Die erwähnte ame¬
rikanische Grotesk-Antiqua aber zeichnete in mehreren Varianten R. H. Middleton
in den Jahren 1938-1941, und sie wurde unter dem Namen Radiant von der Ludlow
Typograph Company herausgegeben. Am interessantesten ist diese Grotesk-Antiqua
in der Variante Radiant Heavy (Abb. 331), einer Schrift mit sehr fetter und kontrast¬
reicher, nach der vertikalen Schattenachse modellierter Zeichnung, also mit allen
Merkmalen einer Antiqua des klassizistischen Typus außer den Serifen, einer Zeich¬
nung, die meiner Meinung nach zu der Frage veranlaßt, ob das nicht etwa gerade
jene Form ist, zu der die Entwicklung der klassizistischen Antiqua auf natürlichem
Wege hingeführt hätte, wenn sie nicht durch den Neorenaissance-Umschwung ge¬
waltsam unterbrochen worden wäre. Die Serifen hatten es in der klassizistischen An¬
tiqua - wie wir wissen - in der Form haardünner Andeutungen nicht mehr weit dazu,
vollständig zu verschwinden, und es ist also nicht ganz töricht zu glauben, daß es nicht
wirklich einmal dazu kommen könnte. Middletons Grotesk-Antiqua hat es allerdings
noch weit dazu, als neue Entwicklungsstufe der Antiqua, insbesondere der Buch-
Antiqua gelten zu können. In der Zeichnung vieler Buchstaben und in der Gesamt-
508
ABCDEFGHI
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abcdef ghijklm
nopqrstuvwxyz
331. Radiant Heavy. R. H. Middleton; Ludlow, ідз8.