DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
Schriften des 19. Jahrhunderts, waren jedoch solche Schriften nicht in jeder Druckerei
vorhanden, und so zwang der Mangel an technisch gut erhaltenen und graphisch
makellosen Schriften aus der Gruppe der Grotesk die jungen Verfechter neuer typo¬
graphischer Richtungen häufig zur Verwendung auch defekter Schriften, die eine
scharfe Ablehnung verdienten. Die Einwände der konservativen Gegner stützten sich
also diesbezüglich auf Argumente, die schwer zu widerlegen waren. Zu einem Um¬
schwung kam es erst mit der Ausgabe moderner Versionen der Groteskschriften, ob-
schon nicht alle Schriftgießereien mit graphisch einwandfreien Schnitten herauskamen.
Die Vielzahl solcher zeitgenössischer Schriften kann man ebenso wie die heutigen
Egyptiennes einerseits in mehr oder minder getreue Kopien ursprünglicher Grotesk¬
schriften des 19. Jahrhunderts, andererseits in moderne Variationen dieser mit größerer
Freiheit des schriftkünstlerischen Ausdrucks verarbeiteten Vorlagen einteilen. Die erste
Untergruppe, die modernen Repliken der Grotesk des ig. Jahrhunderts, ist im Verhältnis
nicht groß und umfaßt neben den hier bereits erwähnten neu abgegossenen Original¬
schriften nur einige wenige vor kurzer Zeit oder früher herausgegebene Paraphrasen
dieser Muster. Von solcher Art sind zum Beispiel die Schriften Record Gothic und Square
Gothic, die in verschiedenen Varianten seit 1927 von der amerikanischen Fabrik Ludlow
herausgegeben wurden (Abb. 318), oder die Commercial Grotesk der Schweizer Firma
Haas'sche Schriftgießerei aus dem Jahre 1942, ein sehr fetter, nur wenig und stellen¬
weise nicht gerade glücklich von E. Thiele revidierter alter Schnitt des 19. Jahrhunderts.
Eine genaue Kopie stellt im wesentlichen die Libri-Grotesk einer anderen Schweizer
Firma, der Neu Didot Schriftgießerei AG dar, eine schmale fette Grotesk, die der
Steinschrift der deutschen Schriftgießerei H. Berthold AG aus dem Jahre 1896 ähnelt.
Die Haas'sche Schriftgießerei produziert auch die sehr schmale lichte plastische Va¬
riante Graphique, eine ebenfalls nur wenig modernisierte Paraphrase alter Vorbilder in
der Zeichnung von H. Eindenbenz aus dem Jahre 1945.
Unverhältnismäßig zahlreicher und in der modernen Akzidenztypographie geläu¬
figer sind die modernen Groteskschriften, deren Reigen eigentlich schon die bereits zitierte
Inschriften-Grotesk Edward Johnstons aus dem Jahre 1916 eröffnete. Von dieser Vor¬
lage ging natürlich auch der unmittelbare Johnstonschüler Eric Gill aus, als er eine
neue Groteskschrift für die Monotype-Gesellschaft in Angriff nahm. In Gills Grotesk,
die 1927 in der ersten halbfetten Serie unter der Bezeichnung Gill Sans Serif erschien,
erhielt die zeitgenössische Typographie die bisher beste Version dieses Schnittes, eine
wirklich moderne Schrift, wenn man eine Schrift überhaupt als modern bezeichnen
kann (Abb. 319). In der Zeichnung der schön proportionierten Versahen zieht vor
allem die edle Form einiger zeichnerisch schwieriger Buchstaben die Aufmerksamkeit
auf sich, wie z. B. des G, K, Q,, R, S und Z, und geglückt ist auch die gleiche Länge
der Querstriche bei den Buchstaben E und F, die Rundung des O, ebenso wie die
Verlängerung des J unter die Grundlinie (Abb. 320). Persönlich halte ich lediglich
die Zeichnung des Versals M mit den senkrechten äußeren Zügen und der nur bis zur
Mitte der Schrifthöhe reichenden Spitze des Winkels der inneren Züge für nicht ganz
glücklich. Im kleinen Alphabet macht sich eine feinfühlige Ausgewogenheit der starken
und abgeschwächten Züge geltend, z. B. beim a, das ähnlich wie das g in der Minuskel-
Buchform vertreten ist. Von der Schriftkunsttradition des 19. Jahrhunderts wandte
sich Gill auch in der Zeichnung des t ab, indem er zur reinen Form der vorangegan¬
genen Stilperioden zurückkehrte. Das Ensemble begleiten sehr gute, die Höhe der
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ABC D E F G
H I J К L M N
OPQRSTU
V W X Y Z &
abcdefgh ì
j к I m n о p q r
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320. Gill Sans Bold. E. Gill; engl. Monotype, ідгу.
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