DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
die Theorica et pratica perspicacissimi Sigismundi de Fantis ferrariensis in artem ma-
thematice professoris de modo scribendi fabricandique omnes litterarum species, heraus¬
gegeben 1514 in Venedig. Also wiederum das Werk eines Professors der Mathematik,
und auch das Konstruktionsprinzip ist hier ähnlich, wenn auch in einigen Einzelheiten
recht unterschiedlich (Abb. 12). Das Ergebnis, zu dem Sigismundo de Fanti gelangt,
bleibt jedoch hinter dem Alphabet des Traktates Divina Proportione weit zurück. An
seinem Büchlein ist aber interessant, daß es auch Textur- und Rotunda-Alphabete
enthält, die hier gelegentlich bereits genannt und nach den gleichen Grundsätzen
konstruiert wurden, wie sie in der wiederbelebten altrömischen klassischen Maju¬
skel zur Geltung kamen, allerdings mit einem angemessen komplizierten System von
Geraden und Kreislinien.
Eine formal verfeinerte Renaissance-Majuskel ist in der weiteren, weniger bekannten
Sammlung Opera del modo de fare le littere maiuscole antique con mesura de circino
& resone de penna, composita per Francesco Torniello da Novaria scriptore professo
enthalten, die im Jahre 1517 Gotardo da Ponte in Mailand druckte. Wie aus dem Titel
ersichtlich, ist das nach längerer Zeit wieder ein Werk eines professionellen Schrift¬
künstlers, und deshalb bringt es auch gute, praktisch verwertbare und nützhche Er¬
gebnisse (Abb. 14, 15), obwohl Torniello einige Buchstaben mit Hilfe viel kompli¬
zierterer geometrischer Konstruktionen zeichnet als der Mathematiker Sigismundo de
Fanti. Torniellos Alphabet ist in allen Buchstaben sehr gut proportioniert und auch
zeichnerisch größtenteils geglückt, vielleicht mit Ausnahme des M mit den nicht ganz
glücklich gelösten Schaftköpfen und der übertrieben langgezogenen oberen linken Se¬
rife, des R mit dem haarförmig am Stamm ansetzenden Bauch, und schließlich viel¬
leicht des X mit der Kreuzung beider Striche unterhalb der optischen Mitte.
In den weiteren, nach chronologischer Ordnung folgenden italienischen Schrift¬
musterbüchern überwiegt die Urkunden- und Buchkalligraphie über die Inschriften¬
schrift, und sofern darin Inschriften-Majuskeln der Renaissance angeführt werden,
bleibt die Möghchkeit ihrer geometrischen Konstruktion außer acht. So zum Beispiel
zeigt Ludovico Vicentino in seiner Sammlung La Operina etc. aus dem Jahre 1522,
der wir später noch größere Aufmerksamkeit widmen werden, nur Muster einer italie¬
nischen Urkundenschrift. Erst in seiner weiteren Sammlung, Il modo de temperare
le penne etc., die ein Jahr später erschien, erwähnt er auch Beispiele von Renaissance-
Majuskeln, allerdings ohne Begleitkonstruktion, dafür aber mit der ursprünglichen
altrömischen Form des Buchstabens Y mit gebogenen Schenkeln. Vorzugsweise kalli¬
graphisch ist auch die Sammlung, die im Jahre 1524 Giovanni Antonio Tagliente
herausgab, ohne darin der Konstruktion der Renaissance-Majuskel auch nur so viel
Interesse zu widmen wie der fremden Textur, die ihrerseits in seinem Muster sehr
komphziert konstruiert ist (Taf. I, IX). Als nächster folgt in der Chronologie der
Sammelband Thesauro de Scrittori, den im Jahre 1525 Ugo da Carpi in Rom heraus¬
gab, ein Holzschneider, der die Muster verschiedener Schriften für die älteren Hand¬
bücher Vicentinos, Taglientes und Fantis in Holz schnitt und sich damit den Anspruch
auf Mitautorschaft erwarb. Sein Buch ist demnach nichts anderes als eine Sammlung
von Holzschnittvorlagen aus den Handbüchern anderer Autoren. Carpi verheimlichte
das übrigens nicht, denn im Titel seines Sammelwerkes führt er ausdrücklich an, daß
seine Beispiele verschiedener Schriften 'tutte extratte da diuersi et probatissimi auttori
& massimamente dalo preclarissimo Sigismundo Fanto nobile ferrarese, mathematico
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