DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
der von der vorangehenden Generation der deutschen typographischen Schriftkünstler
an den Tag gelegten Tendenz. Hermann Zapf wies mit dieser Schrift überzeugend
nach, daß auf den Grundlagen der Renaissance immer noch weitergebaut werden
kann, daß es hier immer noch genügend Möglichkeiten zum Variieren verschiedener
Details der Schriftzeichnung gibt, durch die die Individualität der eigenen Auffassung
ausgedrückt werden kann.
In letzter Zeit zog auch die Schriftproduktion der Schweiz die Aufmerksamkeit der
Fachwelt auf sich, vor allem durch das Verdienst des altehrwürdigen Betriebs Haas'sche
Schriftgießerei AG in Münchenstein. Obwohl das Schwergewicht der Produktion
dieser Schriftgießerei offenbar vor allem bei den Akzidenzschriften liegt, gab sie in den
Jahren 1948-1950 ein bemerkenswertes Buchschrift-Ensemble mit der Bezeichnung
Diethelm-Anhqua heraus, die Walter Diethelm für sie schuf. In den Proportionen und
in der Form der Serifen steht diese Schrift der baskervilleschen Antiqua des Über¬
gangstypus nahe, aber die Modelherung ist hier nach der schrägen Schattenachse der
Renaissance durchgeführt. Von ausgesprochenem Neorenaissancetypus ist die Schrift
Beding von К E. Forsberg aus den Jahren 1947-1949, mit der sich die erstarkende
moderne Schriftkunst Schwedens auf dem Weltmarkt infolge der agilen Tätigkeit des
Werkes Berhngska Stilgjuteriet in Lund neu zu Wort meldet.
Aus der sehr umfangreichen und in Wirklichkeit doch außerordenthch kurzen vor¬
angegangenen Übersicht der modernen Buchschriften geht meiner Meinung nach deut¬
lich die recht kennzeichnende Tatsache hervor, daß es sich in der überwiegenden
Mehrzahl um Schriften handelt, die - hier mehr und dort weniger - vor allem von
Renaissancemustern inspiriert wurden, also um Neorenaissanceschriften. Eine Aus¬
nahme von dieser Regel bilden nur einige wenige moderne Schriften, die man als neo-
klassizistische charakterisieren kann. Aus dieser zahlenmäßig ziemhch kleinen Gruppe
wurden hier als Beispiele bereits die Caledonia von Dwiggins, die Primer von Rûzicka
die Editor von H. Chaix und die Egmont von De Roos angeführt. In diese Gruppe
gehören aber auch zwei viel bekanntere deutsche Schriften, die wir in diesem Zusam¬
menhang nicht vergessen dürfen. Die erste und ältere, die Tiemann-Antiqua der Klings-
porschen Schriftgießerei aus den Jahren 1922-1923, ist eine sehr freie und individuelle
Variation Walter Tiemanns auf klassizistische Vorbilder; sie behält zwar die kon¬
trastreiche Modellierung nach der vertikalen Schattenachse und die flachen unge-
kehlten Serifen bei, ist aber in den Proportionen nach den Grundsätzen der Neore-
naissancereform differenziert. Um vieles klassizistisch orthodoxer und beinahe mit
einer bodomschen Replik zu verwechseln ist die Schrift Ratio-Latein von F W Kleu-
kens die 1924 von der Schriftgießerei D. Stempel AG und dann im Jahre 1930 auch
von der Linotype-Gesellschaft - aber unter der Bezeichnung Parma - herausgegeben
wurde. Sowohl die Tiemann-Antiqua als auch die Ratio-Latein wurden auch in fetten
Varianten geliefert, denen wir häufig im Akzidenzdruck begegnen. Als Buchschriften
sind diese beiden und die ihnen ähnhchen Schriften, wie bereits erwähnt, seltene Aus¬
nahmen von der übrigen, überwiegend und ihrem Wesen nach der Neorenaissance
angehörenden Produktion der modernen Buchschriften.
Die durch Platzmangel gebotene Kürze dieser knappen Übersicht der modernen
Buchschriften läßt es nicht zu, hier noch einige andere Schriften einzureihen, die in
Landern entstanden, deren Schriftschaffen in der Weltkonkurrenz bisher nicht voll
zur Geltung gekommen ist. Das trifft auch für das Druckschriftschaffen in der Tsche-
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MODERNE BUCHSCHRIFTEN
choslowakei zu, obwohl hier mehrere Schriften zustande kamen, die die Aufmerksam¬
keit der Fachwelt erregten und somit schon hier einzureihen wären. Die Entwicklung
des modernen tschechischen Schriftschaffens verlief jedoch in vielem anders als in der
übrigen Welt, weshalb wir ihr erst am Ende dieses Kapitels eine besondere Betrachtung
widmen wollen. Inzwischen sei hier lediglich bemerkt, daß man auch in der modernen
tschechischen Schriftkunst von Anfang an fast ausschließlich Neorenaissancetendenzen
folgte.
*
Gegen die so orientierte, vom schreibkünstlerischen und typographischen Historismus
belastete Schriftkunst Deutschlands und des übrigen Europas erhoben schon zu Beginn
der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts die Vertreter neuer Ansichten in Dingen der
Schrift, der Typographie und jedweder materiellen Kultur der modernen Zeit ein
sehr lautes Geschrei. Als Brennpunkt dieser internationalen Bewegung wird gewöhn¬
lich nicht ganz zu Recht das Bauhaus angesehen, das als Schule und Labor des Kon¬
struktivismus aus privater Initative 1919 in Weimar gegründet wurde und im Jahre
1926 in das eigene konstruktivistische Gebäude in Dessau übersiedelte, wo es bis 1932
tätig war. Der deutsche Nazismus beendete sein weiteres Wirken, bevor das Bauhaus
in der deutschen Kultur den völhgen Sieg erringen konnte. Aus der Existenz dieses
Zentrums des Konstruktivismus in Deutschland ergibt sich aber weder das deutsche
Wesen noch die deutsche Herkunft dieser Bewegung, da sie ihre Vorgänger in ganz
Europa hatte, in Frankreich, Italien, Holland u. a. Ländern, und selbst das Schlag¬
wort Konstruktivismus, das erstmahg der russische Maler Wassili Kandinski gebrauchte,
deckte sich zu Beginn mit dem Kredo der Avantgarde der russischen soziahstischen
Revolution auf dem Gebiet der bildenden, hterarischen und Bühnenkunst. Gerade
aus Moskau und Leningrad kamen mit dem Widerhall der letzten Schüsse des Bürger¬
krieges die ersten Drucke der neuen revolutionären Typographie nach West- und
Mitteleuropa, um in den Reihen des linksorientierten künstlerischen Nachwuchses
begeisterte Bewunderung und bei den konservativen Vertretern der Tradition und der
bequemen fachlichen und sozialen Konvention heftige Abwehr hervorzurufen. Der
ausgesprochen pohtische, linksgerichtete Charakter, durch den sich diese neue Typo¬
graphie von allem Anfang an auszeichnete, war aber für die Klassengegner bald kein
Hindernis mehr, sobald sie sich von ihrer Wirksamkeit überzeugten, und es dauerte
nicht lange, bis auch ein großer Teil der übrigen typographischen Produktion, vor
allem auf dem Gebiet der kommerziellen und industriellen Propaganda, einen kon¬
struktivistischen Anstrich erhielt. So geschah es, daß der Konstruktivismus in Ost- und
Mitteleuropa und etwas später auch in Westeuropa jene erwartete universelle Stilauf¬
fassung zu sein schien, die seit dem Jugendstil so lebhaft vermißt wurde.
Soweit es sich um Fragen der Schrift handelt, die uns hier natürhch vor allem in¬
teressieren, lehnten die Konstruktivisten im Schriftbild der einzelnen Zeichen alles ab,
was sie nicht als funktionell und konstruktiv annerkannten. Darum waren die führen¬
den Persönlichkeiten des typographischen Flügels dieser Bewegung - etwa Lazar Mar¬
kowitsch Lissitzky in Moskau, Herbert Bayer, Laszlo Moholy-Nagy in Dessau, Jan
Tschichold in Leipzig, Karel Teige in Prag und andere Vertreter des Konstruktivismus
im übrigen Europa - allen anderen Schriften abhold, außer der Grotesk des 19. Jahr¬
hunderts, wobei sie den fetten Varianten den Vorzug gaben. In dieser Periode des
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