DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
orts in Europa, wieder einen rein typographischen Standard, der sich durch eine lange
Entwicklung und die Technik des Buchdrucks und Schriftgusses bewährt hatte. Bis auf
einige Ausnahmen war der handschriftliche Duktus aus der Weiß-Antiqua verschwun¬
den; ihre Schriftzeichnung wurde nicht mehr geschrieben und konnte nicht mehr
geschrieben werden. Freihch war sie mit lebhaftem Strich gezeichnet und inspirierte
sich an den historischen Mustern sowohl der Buch- als auch der Inschriftenschriften.
Die Elemente dieser verschiedenen schriftkünstlerischen Disziphnen sind hier recht
beachthch zu einem einheithchen Ganzen ausgewogen, und auch der ungewöhnlich
geneigte Versal A stört nicht so sehr, als daß man die Weiß-Antiqua nicht als eine
der besten zeitgenössischen Schriften überhaupt ansehen könnte. In unserer Klassifika¬
tion können wir sie trotzdem nicht aus der Gruppe der Schriften im alten Stil aus¬
klammern, in die sie sich übrigens mit ihrer zwar schönen, aber traditionell kursiven
Italika einreiht. Sein Ensemble der Antiqua und Itahka ergänzte Weiß später durch
ein Versalienalphabet, das unter der Bezeichnung Weiß-Initialen von derselben Schrift¬
gießerei herausgegeben wurde (Abb. 294). Obwohl man an der ausgesuchten Schön¬
heit ihrer Zeichnung nicht zweifeln kann, handelt es sich wieder um keine Vollblut-
Druckschrift, sondern um eine bloße Reproduktion der meisterhaften kalligraphischen
Probe der Schreibkunst E. R. Weiß'. Den Schriften vom Typus der Weiß-Antiqua
begegnen wir dann in der deutschen typographischen Schriftkunst ständig. Es ist na¬
türlich, daß die Elizabeth-Antiqua der Firma Bauersche Gießerei aus dem Jahre 1937
im gleichen Geist konzipiert ist; sie steht ein Werk der Weiß-Schülerin E. Friedländer
dar und zeigt die erwähnten Merkmale besonders bei der Versalienzeichnung in den
Proportionen der klassischen römischen Monumental-Majuskel mit scharfen Scheiteln
der Buchstaben M und N. Der Einfluß des Lehrers wird auch in der schmalen
Zeichnung des kleinen Antiquaalphabets mit kleinen Serifen deuthch und in der noch
schmäleren Zeichnung der Itahka mit den doppelten Versahen, einerseits in geneig¬
ter Antiquazeichnung, andererseits in kalligraphischer Ausführung. Beinahe gleich¬
zeitig mit der Weiß-Antiqua kam 1928 in der Klingsporschen Schriftgießerei eine
Schrift heraus, die nach denselben Grundsätzen konzipiert war : die zeichnerisch sehr
glückliche Orpheus von Walter Tiemann, einer weiteren und hier schon mehrfach er¬
wähnten großen Persönlichkeit der deutschen modernen Schriftkunst. Dieses schön
ausgewogene Ensemble von Antiqua und Itahka, ergänzt durch eine fette Variante
und gleichfalls kalligraphische Itahka-Versahen, die manchmal auch mit dem Namen
Euphorien bezeichnet werden, ist ebenfalls eine edle und freie Paraphrase von Renais¬
sancevorbildern mit epigraphischen Versahen der Antiqua ohne Scheitelserifen bei
den Buchstaben M und N, mit verhältnismäßig großem Bild des kleinen Alphabets
und kleinen Serifen. Das kleine Alphabet der Italika hat sodann einen ausgespro¬
chenen Schreibduktus. Von anderen Vorbildern ging zu dieser Zeit F. H. E. Schneidler
aus, eine weitere prominente Persönhchkeit der deutschen Schriftkunst. Und doch hat
seine Neorenaissanceschrift Deutsch-Römisch, die im Jahre 1923 von der Firma Weber
und danach auch von der Fabrik Monotype herausgegeben wurde, viele Merkmale
typographischer Vollendung, die auch für die angeführten Schriften von E. R. Weiß
und Walter Tiemann charakteristisch sind. Die Versahen der Antiqua erinnern zwar
an die nichtjensonschen Schriften des venezianischen Typus mit beiderseitigen Serifen
an den Scheiteln der Buchstaben A und M, das kleine Alphabet ist jedoch sehr frei
konzipiert. Zeichnerisch noch unabhängiger ist die Itahka mit ihrem deutlichen Schreib-
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MODERNE BUCHSCHRIFTEN
Charakter, aber im ganzen sind beide Ensembles einheitlich und weisen hohe Satz-
quahtäten auf. Ausgesprochene Neorenaissanceformen zeigt sodann auch seine Antiqua
Schneidler Mediäval, die von der Bauerschen Gießerei im Jahre 1936 herausgegeben
wurde, obwohl Schneidler die Versalien der Antiqua - ähnlich wie vor ihm schon
Weiß und Tiemann - nach römischen epigraphischen Schriften mit scharfen Scheiteln
der Buchstaben M und N und mit gebogenen Serifen zeichnete. Charakteristisch ist
hier die durch die Schattierung kaum differenzierte Zeichnung des kleinen Alphabets,
das im übrigen typisch venezianischen Schnitt aufweist. Erst im Jahre 1957 wurde
diese bemerkenswerte Antiqua durch eine Italika ergänzt, die unter dem Namen
Amalthea erschien. Der Weiß-Antiqua in vielen verwandt ist auch die Schrift Emerson,
die Joseph Blumenthal 1930 für die Bauersche Gießerei zeichnete und die man somit
als eine deutsche Schrift ansehen muß, obwohl sie nach der Emigration des Autors
in die Vereinigten Staaten unter den amerikanischen Schriften angeführt zu werden
pflegt (Abb. 296). Diese sehr erfolgreiche Schrift, die 1936 auch von der englischen
Monotype-Gesellschaft herausgegeben wurde, gilt allgemein als eines der wenigen
Musterbeispiele eines modernen Antiqua- und Italikaschnittes. Dessenungeachtet
können wir sie bei näherer Untersuchung nicht als weitere moderne Schrift im alten
Stil bezeichnen, obwohl man ihr nicht alltägliche ästhetische und typographische
Vorzüge zugestehen muß. Vor dem zweiten Weltkrieg kam noch eine ganze Reihe
derart konzipierter Lateinschriften von der Hand hervorragender deutscher Schrift¬
künstler hinzu, wie zum Beispiel W. Schwerdtners, Berthold Wolpes, Herbert Thann-
häusers, Akke Kumhens, Herbert Posts und vieler anderer, deren Schriften wir hier
leider nicht mehr einzeln anführen können. Vielleicht genügt der Hinweis, daß sie
alle eine bemerkenswert einheitlich orientierte schriftkünstlerische Schule bilden, zu
deren Charakterisierung wohl die genannten Beispiele ausreichen. Darüber hinaus
müssen wir aus dieser Periode jedoch noch eine Schrift verzeichnen, die der um die
moderne Typographie außergewöhnhch verdiente Graphiker Jan Tschichold bisher
als einzige reahsierte. Es ist dies die Saskia, eine von der Firma Schelter & Giesecke
im Jahre 1932 herausgegebene Itahka, eine wahrhaft moderne Schrift, die nur ent¬
fernt an einige Prinzipien der Renaissancekalhgraphie gemahnt. Nach diesen Prin¬
zipien ist die Tschicholdsche Italika modelliert, es überwiegt darin die schräge Schat¬
tenachse, sie hat ein ziemlich großes, aber schmales Bild ohne Serifen im kleinen und
großen Alphabet. Sie ist eine sehr frühe Schrift der Klasse der modernen Grotesk-
Antiqua, die bereits die Qualität einer Buchschrift hat. Es ist bedauerlich, daß Tschi¬
chold zu dieser Itahka nicht gleichzeitig eine stilgerechte Antiqua schuf.
Auch nach dem zweiten Weltkrieg erlosch in Deutschland die Intensität des Schrift¬
schaffens nicht. Es tauchten neue Persönhchkeiten auf, deren Kunst bald Weltgeltung
erlangte. Aber das Werk dieser neuen deutschen Schriftkünstler - seien es nun Georg
Trump, Hermann Schardt, Hermann Zapf und seine Gattin Gudrun Zapf-von
Hesse, Hellmuth Tschörtner, Albert Kapr, Gert Wunderlich und viele andere - ist
erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, also jenseits der äußersten chrono¬
logischen Grenze unserer Übersicht entstanden. Wir müssen uns daher auf ein ein¬
ziges Beispiel beschränken, die Schrift Palatino von Hermann Zapf aus dem Jahre 1948,
herausgegeben im Jahre 1950 von der Schriftgießerei D. Stempel und dem Frank¬
furter Linotype-Werk (Abb. 295). Sie ist nicht nur ein schönes Beispiel für die schrift¬
künstlerische Meisterschaft ihres Schöpfers, sondern auch ein Beleg für die Fortsetzung
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