KONSTRUIERTE RENAISSANCE-MAJUSKEL
dacht bestätigte im Jahre 1550 auch der bekannte, in seinen Angaben allerdings
sprichwörtlich unzuverlässige Chronist Giorgio Vasari, der außerdem hinzufügt, daß
Pacioh angeblich gleichermaßen aus der Arbeit eines anderen seiner Freunde, des
bedeutenden Malers Piero della Francesca (Pier de'Franceschi), Nutzen gezogen habe.
Moderne italienische Fachleute stellten aber einige Tatsachen fest, die die etwas be¬
fangenen Behauptungen der Zeitgenossen Paciohs auf das rechte Maß zurückführen.
Divina Proportione ist ein Sammelwerk von Traktaten über Schrift, Architektur,
Perspektive und die Polyeder, also ein nach unseren Begriffen recht vielseitiges Buch.
Es ist wahrscheinlich, daß die Holzschnitte der Polyeder nach Zeichnungen Leonardo
da Vincis angefertigt wurden, von denen zwei bis heute in jener Sammlung von
Zeichnungen und Handschriften Leonardos erhalten sind, die unter dem Namen Co¬
dex Atlanticus bekannt ist. Demgegenüber ist es ganz sicher und wird im Text der
Divina Proportione keineswegs verheimlicht, daß der Autor des Traktates über die
regelmäßigen Polyeder Piero della Francesca ist, dessen lateinische Handschrift Pacioh
nur ins Italienische übersetzte. Aus der Autorschaft Leonardos an den Zeichnungen
der Polyeder in der Divina Proportione wurde sodann geschlossen, daß auch die
Konstruktion der Schrift in diesem Sammelband sein Werk sei. Das kann man aber
keinesfalls bestätigen, denn in der ungeheueren Zahl der erhaltenen Zeichnungen und
Manuskriptblätter der Hinterlassenschaft Leonardos in den öffentlichen Sammlungen
wurde nicht eine einzige Skizze einer geometrischen Schriftkonstruktion, keine einzige
handschriftliche Notiz gefunden, die sich auf dieses Problem bezöge. Und von den
hier angeführten, Leonardo zugeschriebenen und übrigens konstruktiv völlig verschie¬
denen Zeichnungen aus der amerikanischen Privatsammlung meint man heute viel¬
mehr, daß sie mit gleichem Recht jedem anderen italienischen Maler dieser Zeit zu¬
geschrieben werden können und daß sie nicht nur keine Vorlagen für die Illustrationen
von Paciohs Buch darstellten, sondern im Gegenteil ebenso wahrscheinlich erst unter
dem Einfluß gerade dieser Illustrationen angefertigt worden sein konnten. Nicht nur
aus diesem Grund, sondern auch weil Pacioh dem Ansehen seines Werkes durch das
Verschweigen eines so berühmten Mitarbeiters mehr geschadet hätte, muß man not¬
wendigerweise den schrifttheoretischen Teil seines Werkes einschließlich der Illustra¬
tionsanhänge für sein Werk halten. Und wenn wir seine Arbeit auch nur von dieser
Seite her betrachten, so dürfen wir keineswegs das Positive sowohl des Verfahrens
als auch des Ergebnisses leugnen, denn sein Alphabet (Abb. 10, 11) ist eine wahrhaft
schöne Schrift. Obgleich sie aus der klassischen altrömischen Majuskel hervorgeht und
sich sehr eng an ihr Vorbild hält, trägt sie doch insgesamt schon ausgeprägten Re¬
naissancecharakter, sie ist bereits völlig eine Schrift ihrer Zeit. Alle Buchstaben haben
ausnahmslos vollendete Proportionen, und einige davon zeichnen sich durch eine neue
graphische Lösung des Details aus, wie etwa das hohle Abschneiden des Scheitels des
Buchstabens A, das raffiniert leichte Spreizen der äußeren Schäfte des M, das für die
zeitgenössische italienische und etwas spätere französische Druckversion der Renais¬
sance-Buchschrift so kennzeichnend ist u. ä. Die Vollendung der Formen von Paciohs
Alphabet ist petrifiziert durch das schon kompliziertere, aber immer noch recht zu¬
gängliche System einer geometrischen Konstruktion jedes Zeichens im Quadratschema.
Hierbei wurde nicht einmal die Form der Serifen dem Zufall überlassen, sondern aus
einem System kleiner Kreise von verschiedenem Radius abgeleitet.
Eine weitere italienische Veröffentlichung einer Schriftkonstruktion dieser Art war
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