DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
keine moderne Schrift im vollen Sinn des Wortes. Den gleichen Stil zeigt die Goudy-
type der Gesellschaft American Typefounders aus dem Jahre 1916, deren Serifen aber
eine Zeichnung von deutlicherem Schreibschriftcharakter haben. Eine andere seiner
typischen Neorenaissanceschriften ist die Goudy-Antique in der Zeichnung aus dem
Jahre 1919, eine Antiqua venezianischen Schnittes, die von der amerikanischen Fabrik
Monotype und unter dem Namen Ratdolt Roman 1922 auch von der englischen Schrift¬
gießerei Caslon herausgegeben wurde. Um eine moderne Schriftzeichnung bemühte
sich Goudy wohl in einer seiner anderen Schriften, der nicht minder berühmten Goudy
Modern, die er in den Jahren 1918-1919 für die Village Letter Foundery zeichnete und
die seit 1921 auch die Fabrik Monotype produziert. Das Ergebnis ist aber wieder eine
Schrift im alten Stil, eine Kompilation mit schräger Schattenachse und sehr seicht
gekehlten Serifen. Im übrigen verfügt diese Schrift über hervorragende Satzqualitäten
und ist somit verdientermaßen erfolgreich. Nichtsdestoweniger ist mir persönlich eine
weitere Schrift Goudys für die Village Letter Foundery lieber, nämlich die Marlbo¬
rough aus dem Jahre 1925, eine schlanke und sehr feine, aber wenig bekannte Antiqua
von nüchternem kontrastarmem Schnitt. Welterfolg wurde Goudy jedoch für seine
weitere Schrift Deepdene zuteil, die ursprünglich für dieselbe Schriftgießerei gezeichnet
und später auch von der Fabrik Monotype herausgegeben wurde (Abb. 276). Sie ist
eine sehr schöne und wirkungsvolle Schrift, hauptsächlich durch den schroffen Kon¬
trast zwischen der breiten und runden Zeichnung der Antiqua aus dem Jahre 1927
und der hingegen sehr schmalen und scharfen Zeichnung der Italika aus dem Jahre
1928. Allerdings handelt es sich wieder um eine Schrift im Renaissancestil, wenngleich
die Serifen hier flach und ungekehlt sind. Im kleinen Alphabet macht sich die Ver¬
wandtschaft mit der Renaissance-Antiqua des venezianischen Typus bemerkbar, und
die Italika ist schließlich eine fast getreue Replik der Kanzlei-Kursiv der kalligraphi¬
schen Mustersammlungen der italienischen Renaissance. Von der Schriftkunst der
Renaissance ist größtenteils auch das weitere Goudysche Buchschriftenschaffen be¬
einflußt. Nur ausnahmsweise ließ sich Goudy auch von anderen historischen Mustern
inspirieren, z. B. von der barocken Antiqua und Italika des Übergangstypus, wie in
der Schrift Goethe aus dem Jahre 1932 - zu deren Entstehung Hugo Steiner-Prag, ein
bekannter Prager Fachmann auf dem Gebiet des Buchschaffens den Anstoß gab - die
dann von der Village Letter Foundery herausgegeben wurde. Aber nicht einmal bei
dieser Schrift, die eigentlich eine leichtere Variante der Goudy Modern ist, konnte
sich der Künstler ein kleines Zeichen für den Ausdruck seiner Bewunderung der frühen
Schriften der italienischen Renaissance verkneifen, nämlich den schrägen Querstrich
beim e im kleinen Alphabet der Antiqua. Unter den letzten Schriften F. W. Goudys ist
die Goudy Bible der amerikanischen Fabrik Monotype aus dem Jahre 1947 zu nennen,
eine herrliche, zeichnerisch vollendet ziselierte Antiqua, aber wieder venezianischen
Schnittes, d. h. eine weitere Schrift des Neorenaissancetypus.
Eine Persönlichkeit vom Format F. W. Goudys stellte die übrigen amerikanischen
Schriftkünstler etwas in den Schatten, obwohl sich darunter Fachleute befinden, die
sich mit der Herstellung von Kopien alter Schriften oder deren Umzeichnung bezw.
Modernisierung nie zufrieden gaben und mit ihren Versuchen einer modernen Schrift¬
zeichnung die Anerkennung der größten Autoritäten der Fachwelt errangen. Diese
Versuche erbrachten aber größtenteils ebenfalls nichts anderes als jene Schöpfungen,
die bei näherer Betrachtung schließlich nur als Schriften im alten Stil qualifizierbar
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ABCDEFGHIJK
LMNOPQRSTU
VWXYZ&123456
7890abcdefghijkl
mnopqrstuvwxyz
AB CDEFGQHIJK
LMNOPQRSTTU
VWXYZ&i 23456
y S 9 о ab с d e f ghi jìil
mnopqrstuv'w xyz
277. Goudy Old Style. F. W. Goudy; ATF, igi¡.
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