DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
sehen Tradition zerschellte, und wo die didotschen Schriften somit nie die Vorherr-
schaftim geläufigen Buchdruck verloren. Französischer Herkunft sind auch die schönsten
didotschen Schriften, die uns heute zur Verfügung stehen, z. B. die Firmin Didot der
Pariser Schriftgießerei Deberny & Peignot, eine besonders großartige und stilreine
Schrift (Abb. 271). Während sie den Gipfel der schriftkünstlerischen Meisterschaft
Firmin Didots um 1800 repräsentiert, ist mit der Schrift Didot der holländischen Firma
Enschedé, die diese aus den i860 erworbenen Originalstempeln produziert, in der
modernen Typographie der Welt erneut Pierre Didot l'Aîné vertreten. Viel häufiger
aber begegnen wir verschiedenen Didotschriften deutscher Schriftgießereien, z. B. der
Didot der Firma H. Berthold in Berlin oder der Didot-Antiqua der Frankfurter Firma
D. Stempel AG. Im Maschinensatz ist sodann die Replik Didot der Gesellschaft Mono¬
type am meisten verbreitet. Nach ihrer Wirkung im modernen Satz beurteilt, be¬
währen sich die didotschen Schriften nur in den größeren Graden, mit großem Durch¬
schuß und im Luxusdruck auf geglättetem Qualitätspapier. Im gewöhnlichen Satz
der Schriftgrade unter zwölf Punkt sind sie sehr zart und farblos und damit auch
schlecht lesbar. Das ist aber kaum der Grund für die heute geringere Behebtheit der
Didotschen Schriften gegenüber der Antiqua und Italika ihres Konkurrenten Bodoni,
die zu den populärsten Schriften der modernen Druckereien gehört.
Es ist interessant, daß der Name Bodoni im Gedächtnis eines jeden haften bleibt,
der auch nur flüchtig mit Dingen des Druckwesens in Berührung kommt. Darum wird
seine Schrift wohl auch am meisten verlangt, leider aber ist sie größtenteils nur in
Repliken verfügbar, die dem Ruf der Bodonischen Meisterschaft eher Schaden zu¬
fügen. Ähnlich wie die Didot kommt auch die Bodoni in den größeren Schriftgraden
und mit großem Durchschuß am besten zur Geltung. Im Kompreßsatz sind die übli¬
chen Bodonischriften schon in Cicero gewöhnheh zu schwarz und weder besonders
schön noch besonders leserheh. Unter dem Namen Bodoni hefern fast alle bedeutenden
Schriftgießereien der Welt verschiedene Schriften des klassizistischen Typus, die manch¬
mal von zweifelhafter Herkunft sind. Es gibt wohl keine Druckerei, die unter ihrem
Material nicht eine dieser Repliken aufzuweisen hätte. Gewöhnheh sind das zeichne¬
rische Kompilationen verschiedener Schnitte der Antiqua und Italika Bodonis, wie
z. B. die Schrift Bodoni der Gesehschaft American Typefounders, einer der ältesten
Bodoni-Kopien überhaupt, deren Antiqua Morris F. Benton schon im Jahre 1909 und
deren Italika er 1910 zeichnete. Vom gleichen Autor stammt die sehr erfolgreiche
Variante Bodoni Book derselben Schriftgießerei aus dem Jahre 1912. Mit dieser ver¬
hältnismäßig lichten, kontrastarmen Schrift stimmt die Replik Bodoni Book der Ge¬
sellschaft Linotype aus dem Jahre 1916 beinahe überein (Abb. 272). Viel häufiger
haben solche Rephken eine sehr fette und kontrastreiche Zeichnung, wie zum Beispiel
eine andere Schrift Bodoni der Firma Linotype. Etwas über den Durchschnitt ragen die
Bodoni-Rephken der Bauerschen Gießerei in Frankfurt aus dem Jahre 1926 und der
englischen Monotype Co. aus dem Jahre 1921 hinaus. Sehr schön ist und mit dem
charakteristischen g an den Einfluß der Schrift Pierre Didots l'Aîné gemahnt eine
Replik des Konzerns ATF, die unter dem Namen Empiriana von der Schriftgießerei
(Slévárna písem) in Prag ebenfalls aus amerikanischen Matrizen abgegossen wurde
(Abb. 273). Natürlich werden auch die Rephken der bodonischen Schriften von ver¬
schiedenen fetten oder engen Varianten begleitet, wie es die Bodoni Bold in der Zeich¬
nung von M. F. Benton für die American Typefounders aus dem Jahre 1914 ist, oder
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MODERNE BUCHSCHRIFTEN
die Bodoni Bold Condensed, die Sol Hess 1934 für Monotype zeichnete. Aber alle diese
Schriften fallen bereits mehr in die Kategorie der Akzidenzschriften. Der Gruppe der
Kopien der Buchschriften des klassizistischen Typus gehören aber noch die Rephken
des schönen Ensembles der Antiqua und Italika J. E. Walbaums an, das von den
Firmen Intertype und Monotype 1933 für den Maschinensatz herausgegeben und
zuvor unter der Bezeichnung Walbaum-Antiqua aus den Originalmatrizen von der
Bertholdschen Schriftgießerei für den Handsatz abgegossen wurde (Abb. 114).
Diese kurze und bei weitem nicht vollständige Aufzählung der häufigsten Kopien
historischer Schriften im modernen Buchdruck beweist an sich, daß der Vorwurf
des Historismus, mit dem wir hier die modernen Buchschriften charakterisiert haben,
berechtigt ist. Leider sind es nicht nur diese Rephken, die der modernen Typographie
ihren archaisierenden Charakter verleihen, sondern auch die zahlreichen modernen
Schriften im alten Stil. Wie bereits festgestellt, rief das Beispiel und der Erfolg der engli¬
schen Schriften des Typus Old Style auch im übrigen Europa und vor allem in Ame¬
rika viele Nachfolger auf den Plan. Zahlreiche im gleichen Geist konzipierte Antiqua-
und Italikaschriften faßten für immer Fuß und sind seit dieser Zeit in den modernen
Setzereien ununterbrochen vertreten. In der heutigen Buchproduktion und im Zeit¬
schriftensatz werden ständig verschiedene 'Old Style'- und 'MediävaP-Schriften
aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg verwendet, wie die Old Style aus dem Jahre
i860, die Century Old Style, die Original Old Style, die Cheltenham, die Nicolas
Cochin, die Augustea, die Sorbonna, die Genzsch-Antiqua, die Imprint usw. Dieser
Gruppe kann man auch viele Schriften zuordnen, die als moderne, originelle Schöp¬
fungen ausgegeben wurden. Für die Beurteilung der Zugehörigkeit ist dann in solchen
Fähen freilich das Maß der Abhängigkeit von der historischen Vorlage entscheidend,
an die sich der Autor der Schriftzeichnung entweder bewußt anlehnte oder von deren
Einfluß er sich nicht befreien konnte. Alle diese modernen Schriften im alten Stil
können wir nach den Klassifikationsgesichtspunkten der Geschichte der Latein-Druck¬
schrift in drei weitere Untergruppen einteilen. Zur ersten können die modernen Neo-
renaissanceschriften zusammengefaßt werden, unter denen man darüber hinaus noch
Schriften venezianischen und aldinschen Schnittes unterscheiden kann. Als Neorenais-
sanceschriften venezianischen Schnittes bezeichnen wir alle Antiquaschriften mit schrä¬
ger Schattenachse, stumpfen Serifen und vor allem mit schrägem Querstrich des e,
sowie nach innen ragenden oberen Serifen des Buchstabens M. Analog gehen wir auch
bei der Beurteilung moderner Neorenaissanceschriften des aldinschen Typus vor, wobei
wir hier die Kenntnisse der typischen Merkmale der Schriften dieses Schnittes nutzen.
Die Schriften des in der modernen Typographie sehr zahlreich vertretenen basker-
villeschen Schnittes kann man in einer anderen Gruppe als moderne Schriften des Über¬
gangstypus zusammenfassen. Zu diesen Schriften mit vertikaler Schattenachse, aber mit
gekehlten Serifen gehört wohl die Mehrzahl der Schriften des 19. Jahrhunderts und
der Gegenwart, wie sie zur breitesten Verwendung hauptsächlich für Zeilengießma¬
schinen zum Satz von Zeitungen und Zeitschriften angeboten werden. Viele moderne
Dessinateure, darunter auch Meister wie Walter Tiemann, Frederic W. Goudy und
andere von gleicher Bedeutung haben in ihrem Schaffen klassizistische Schriften als
Inspirationsvorlagen nicht verschmäht. Darum muß man in diesem Zusammenhang
noch die modernen neoklassizistischen Schriften als nicht minder bedeutende Gruppe in
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