DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
Zusammenhang dieser Schrift Goudys mit den frühen Vorbildern so eng, daß wir sie
als Rephk historischer Vorlagen ansehen können. Die begleitende Italika hingegen ist
viel freier nach verschiedenen typographischen und kalhgraphischen Quellen schrift¬
künstlerischer Inspiration konzipiert.
Einige dieser ausgewählten und eine ganze Reihe weiterer Kopien der Antiqua
Nicolas Jensons und seiner Zeitgenossen sind zwar schöne Beispiele der Lebenskraft
und der seltenen ästhetischen und praktischen Qualitäten, die die ursprüngliche An¬
tiqua des venezianischen Typus kennzeichnen, aber die Anwesenheit früher Schriften
des 15. Jahrhunderts im geläufigen modernen Buchdruck ist zugleich eine bedenkliche
Tatsache, über deren Schattenseiten wir noch nachdenken müssen. Dasselbe gilt na¬
türlich auch für moderne Kopien von Schriften aus der weiteren Entwicklung, vor
allem also für die beiden Rephken der Schriften des Aldus Manutius in den Ausgaben
der enghschen Fabrik Monotype. Die erste dieser Schriften, die Bembo aus dem Jahre
1929 (Abb. 260), ist eine Kopie der ersten Form der aldinschen Antiqua im Traktat
Pietro Bembos aus dem Jahre 1495. Im ganzen und besonders in den größeren Schrift¬
graden wäre sie eine höchst befriedigende Reproduktion dieser historisch so bedeu¬
tungsvollen und mit ihren typographischen Qualitäten bis heute nicht veralteten
Schrift, wenn in ihrem Versalienalphabet nicht überflüssigerweise die Zeichnung des
Buchstabens G verändert wäre, für den in der Vorlage doch die einseitige Serife des
Schaftes so charakteristisch ist. Auch mit der Gesamtfärbung entspricht diese Kopie
nicht dem Original in den sehr lichten kleineren Graden, in denen sie vor allem in
normalen Druckereien zugänghch ist. Die begleitende Itahka der Bembo ist sodann
im kleinen Alphabet mehr aus Schreibmustern der Renaissance abgeleitet als aus der
Itahka des Aldus Manutius, die angeblich in der Kombination mit der aldinschen
Antiqua nicht gut wirkt. Die Versalien der Italika sind nur eine zeichnerische Analogie
der Antiquaversalien. Im Jahre 1930 ergänzte die Fabrik Monotype ihre Schrift Bembo
darüber hinaus durch die Garnitur Bembo Condensed Italic, eine kalligraphisch kon¬
zipierte enge Italika, die der bekannte moderne Kalligraph A. Fairbank entwarf. Die
zweite aldinsche Replik, eine Kopie der Antiqua des berühmten Werkes Hypneroto-
machia Poliphili aus dem Jahre 1499, die schon 1923 die englische Firma Monotype
unter der Bezeichnung Poliphilus herausgab, wird allgemein als die gelungenste Kopie
einer historischen Schrift überhaupt angesehen, und sie verdient dies zweifellos mit
vollem Recht (Abb. 261). Sie ist tatsächlich eine vorzügliche Schrift, die dem Original
in seiner ganzen Schönheit, in seinem charakteristischen und wahrhaft italienischen
Glanz gleichkommt. Merkwürdig ist aber, daß auch diese Replik der aldinschen An¬
tiqua von keiner aldinschen Italika begleitet wird, sondern von einer 1925 unter der
Bezeichnung Biado zusätzlich herausgegebenen Kopie der jüngeren Italika Vicentinos.
Als Rephk dieser Vorlage stellt sie eine nicht minder geglückte Kopie dar, aber nur
mit dem Charakter der ursprünglichen Zeichnung des wenig geneigten kleinen Alpha¬
bets. Hinsichtlich des großen mußte man nämlich leider ein Zugeständis an die mo¬
derne Gewohnheit machen und geneigte Versahen hinzufügen, die aus der Zeichnung
der Versahen der Antiqua des Poliphilus abgeleitet wurden. Die Verbindung der aldin¬
schen Antiqua mit der vicentinoschen Italika müssen wir nichtdestoweniger in diesem
Ensemble als sehr glücklich bezeichnen, denn im gemischten Satz ergänzen sich die
beiden Schriften wirklich gut.
Die Ausstattung einer modernen Druckerei könnte nicht als vollständig angesehen
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ABCDEF
GHIJKLMN
OPQRSTU
VWXYZabc
defghii klmno
pqrstuvwxyz
1234567890
260. Bembo. Engl. Monotype, ідгд.
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