DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
zur Einteilung der zeitgenössischen typographischen Schriften, manchmal sogar sehr
radikale. In einigen Fällen, wie z. B. im Entwurf der englischen Normen, wird die
bisherige Klassifikation nur kodifiziert und präzisiert, obwohl es in der Gruppe der
ornamentalen Schriften bestimmt notwendig wäre, ihre einzelnen Grundformen zu
unterscheiden. In den deutschen Normen nach dem Entwurf von A. Kapr, G. Schauer,
G. Schautz und H. Zapf kommt es aber zu sehr weitreichenden und vom historischen
Standpunkt sehr bedenklichen Veränderungen. Die Einteilung aller Schriften in drei
Hauptgruppen, nämhch die Antiquaschriften, die Frakturschriften und die nicht la¬
teinischen (griechischen, russischen, hebräischen und ähnlichen) Schriften ist sehr all¬
gemein und scheint mir typologisch ziemhch verwirrend zu sein. Wie ist es möglich,
unter die Antiquaschriften zum Beispiel die Grotesk-, Egyptienne-Schriften und Schreib¬
druckschriften einzureihen? Wenn aus dieser deutschen Einteilung die zweifelhafte
Bezeichnung 'Mediäval' verschwand, entstehen wiederum andere Kuriosa, wie zum
Beispiel die Einordnung der zur Spätrenaissance gehörenden Caslon in die gemein¬
same Gruppe der Barock-Antiqua, zusammen mit der Baskerville, also einer Schrift
mit grundsätzhch unterschiedhchem Schnitt. Die Gruppe der Frakturschriften scheint
mir gleichfalls nicht glücklich festgesetzt zu sein, da sie auch andere Schriften des
gotischen Typus, die Textur, Rotunda und Schwabacher umfaßt, obgleich die Fraktur
die jüngste dieser Formen ist. Eine bessere Bezeichnung dieser Gruppe wäre vielleicht
der allgemeinere Name Gebrochene Schriften. Sachlich viel richtiger, obwohl termi¬
nologisch sehr revolutionär ist der französische Klassifikationsvorschlag von Maximi-
lien Vox, der die von F. Thibaudeau in die französische Fachhteratur eingeführte und
wirklich sehr unpassende Einteilung ersetzen sollte. Es war dies zwar eine sehr ein¬
fache Klassifikation, die ausschheßlich auf der Form der Serifen beruhte, andererseits
aber war sie sehr breit. Man geriet manchmal in ziemhche Verlegenheit darüber, wie
so manche neuere Schrift in die vier Thibaudeauschen Gruppen einzuordnen sei,
unter denen die erste, Antiques, die Schriften ohne Serifen umfaßt, die zweite, Elzévirs,
die Schriften mit stumpfen Serifen, die dritte, Didots, die Schriften mit flachen unge-
kehlten Serifen und die vierte, Egyptiennes, schließlich die Schriften mit schweren
rechteckigen Serifen. Maximilien Vox schlägt deshalb vor, zehn Gruppen mit völlig
neuen Bezeichnungen zu bilden : i ) Mèdïèves, von mittelalterlichen Formen, Unzialen
und Schriften des gotischen Typus inspirierte Schriften; 2) Humanes, jensonsche Anti¬
quaschriften der frühen Renaissance und andere Schriften venezianischen Schnittes ;
3) Garaldes, Schriften des aldinschen und garamondschen Typus; 4) Reales, Schriften
des fournierschen und baskervilleschen Übergangstypus; 5) Didones, didotsche und
bodonische Schriften des klassizistischen Typus; 6) Simplices, Schriften ohne Serifen;
7) Mécanes, Egyptienneschriften; 8) Incises, Schriften, die in Stein gehauene, in Metall
gestochene, in Holz oder anderes epigraphisches Material geschnittene Schriften nach¬
ahmen ; 9) Manuaires, Schriften mit handschriftlichem Duktus oder mit anderen Spuren
von Handschriftcharakter; 10) Scriptes, alle Versionen der modernen geläufigen Kur¬
sivschriften. Wie hieraus ersichtlich, ist die Klassifikation von Vox schon viel genauer.
Dennoch kann man viele moderne Schriften, die sich unorganisch aus vielen ver¬
schiedenen Stil- oder zeichnerischen Elementen zusammensetzen, nur mit Schwierig¬
keiten in sie hineinzwängen. Man könnte aber - wenigstens für den praktischen Ge¬
brauch - damit übereinstimmen, keinesfalls jedoch kann man sich ohne Einwände mit
seiner Terminologie zufriedengeben.
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MODERNE BUCHSCHRIFTEN
Die neuen Vorschläge der Klassifikation moderner Druckschriften stellen also im
Wesen keinen umstürzenden Beitrag dar, am wenigsten für unsere historisch orien¬
tierte Übersicht. Ich sehe darum noch keine Notwendigkeit, am Plan dieser Übersicht
etwas zu ändern, denn die Schwierigkeiten mit der Einteilung dieser auf den ersten
Blick so unermeßlich reichen und vielgestaltigen Kategorie sind von unserem Stand¬
punkt aus keineswegs unüberwindlich. Es ist nur notwendig, diese Aufgabe von An¬
fang an durch die Unterteilung in zwei Phasen zu erleichtern, nämlich in eine Über¬
sicht über die Buchschriften und eine solche über die Nichtbuch- oder Akzidenzschriften.
Wir tun das in völhger Übereinstimmung mit der Tradition der Musterbücher der
Druckereien und Schriftgießereien, aber im Bewußtsein, daß auch dieses Verfahren
nicht ganz ideal ist. Die Möglichkeit der Verwendung dieser verschiedenen Druck¬
schriften ist keineswegs genau auf ihre eigentliche Bestimmung in der zugehörigen
Kategorie begrenzt, allerdings nur in einer Richtung: fast jede Buchschrift kann zu¬
gleich in der Akzidenztypographie verwendet werden, aber nur wenige Akzidenz¬
schriften eignen sich auch für den Buchsatz. Enger verbindet die Schriften beider
Kategorien allerdings die typologische Abstammung, die dessenungeachtet in den ge¬
gebenen Grenzen und in der im voraus darauf ausgerichteten Anlage leicht feststellbar
ist. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Druckschriften ist aber die Möglichkeit ihrer
Verwendung durch ihre spezifischen Eigenschaften sehr eng und traditionell begrenzt.
Bleiben wir bei dieser üblichen Einteilung des Schriftmaterials unserer Druckereien
und widmen wir zunächst den Schriften der ersten Gattung ein wenig mehr Aufmerk¬
samkeit, so vermögen wir uns bald nicht des Eindrucks zu erwehren, daß die MO¬
DERNEN BUCHSCHRIFTEN größtenteils durch Schriften vertreten sind, die uns
sicherhch irgendwie bekannt vorkommen, und früher oder später fallen uns ihre Proto¬
typen ein, die wir im Verlauf der Geschichte der Lateinschrift seit der Entdeckung
des Buchdrucks bereits kennengelernt haben. Aus demselben Grunde wie bei den In¬
schriftenschriften können wir uns zugleich nicht der Zweifel erwehren, ob man bei den
zeitgenössischen Buchschriften überhaupt von wirklich modernen Schriften sprechen
kann. Wenn es überhaupt möglich ist, die gegenwärtige Produktion von Buchschriften
als Ganzes zu charakterisieren, so stellt ihren vorherrschenden Zug zweifellos ein
schriftkünstlerischer Historismus dar. In erster Linie erhält der moderne Buchdruck
dieses Gepräge durch die sehr zahlreichen Repliken historischer Schriften, von denen wir
einige bereits in den vorangegangenen Kapiteln erwähnt haben. Die lange Reihe
dieser mehr oder weniger getreuen Kopien wurde bekannthch durch die exklusiven
'revivals' der englischen Pioniere der Neorenaissancebewegung eingeleitet und von
den Unikatschriften der Privatpressen fortgesetzt, aber der Gedanke einer Rückkehr
zu historischen Formen wurde von allen Schriftgießereien der Welt und zuletzt auch
von den Fabriken für Setzmaschinen sehr bald kommerziell ausgewertet. So konnte
es geschehen, daß jede besser ausgestattete Druckerei heute unter ihrem Schriftmaterial
einen mehr oder weniger vollständigen Querschnitt durch die Geschichte der Buch¬
schrift von der Zeit der Wiegendrucke bis zum 19. Jahrhundert in mehr oder weniger
getreuen schriftgießerischen Reproduktionen aufweist. Wir begegnen also in modernen
Büchern immer wieder alten Renaissanceschriften des sogenannten venezianischen
Schnittes in zahlreichen Repliken der Antiqua Nicolas Jensons, den Antiqua- und
Italikaschriften des Aldus Manutius und des Ludovico Vicentino, noch häufiger so¬
dann Antiquaschriften des französischen Renaissancetypus, den verschiedenen Gara-
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