MODERNE DRUCKSCHRIFTEN
Perioden der Lateinschrift die Inschriftenkunst und Kalligraphie ihre führende Stel¬
lung verloren. Dies gilt um so mehr für die Schriftkunst seit dem 19. Jahrhundert,
und unsere Übersicht sollte ja eigentlich mit den MODERNEN DRUCKSCHRIF¬
TEN als führender Gruppe eingeleitet werden. Dieses Primat ist aber, wie ich fürchte,
der einzige unangefochtene Vorzug, den die Schriften dieser Gruppe aufzuweisen
haben, denn hinsichtlich ihrer Modernität sind sie - wie wir gleich sehen werden -
keineswegs besser als die modernen Inschriftenschriften. Mehr noch, viele dieser Schriften
sind bloße Reproduktionen handschriftlicher Formen, so daß sie nicht einmal als echte
Druckschriften, wirklich druckmäßig aufgefaßte Schriften angesehen werden können.
Als Ganzes zeichnen sich die modernen Druckschriften vor allem durch die Quantität
verschiedener Formen und Varianten von so schwindelerregender Vielzahl aus, daß
ihre Gesamtübersicht nicht nur unsere Kräfte und den Umfang dieses speziell aus¬
gerichteten Buches übersteigt, sondern einem jeden derartigen Versuch tatsächlich
trotzt. Bedenken wir nur, daß zum Beispiel ein einziger Druckschriftenkatalog, näm¬
lich das 1926 von A. Seemann herausgegebene Handbuch der Schriftarten, 3500 ver¬
schiedene Schriften enthält, die in diesem Jahr bei den deutschen Schriftgießern
lagerten. Nicht geringer ist wohl die Produktion der englischen, französischen, hol¬
ländischen und vor allem amerikanischen Schriftgußfirmen. Zählen wir noch die
Schriftproduktion dieser Großmächte des Schriftgusses und anderer Länder nach 1926
schätzungsweise hinzu, so wächst die Zahl der verschiedenen Druckschriften von mehr
oder weniger unterschiedhchem Schnitt in der Typographie und im Schriftgußhandel
der Welt bestimmt in die Zehntausende. Hieraus ist ersichtlich, daß ich mich in der
erwarteten Übersicht außerordentlich einschränken muß, und daß wir hier nur den
Versuch einer sehr engen Auswahl einiger weniger Druckschriften machen können,
die für den gegenwärtigen Stand und das graphische Niveau der zeitgenössischen Ty¬
pographie besonders typisch sind und bis einem gewissen Grad gleichzeitig eine cha¬
rakteristische Probe der Ergebnisse sein können, die man in den verschiedenen Ländern
im Bemühen um eine vollendete neue Druckschrift bisher erzielt hat.
Mit der unübersehbaren Menge und morphologischen Vielfalt der modernen Druck¬
schriften hängt die nicht geringere Schwierigkeit ihrer Klassifikation eng zusammen.
In jedem Land führten die Bedürfnisse der täglichen Praxis der Setzereien zur Fixie¬
rung einer eigenen Tradition der Einteilung, die sich von anderen gewöhnlich nur in
der Terminologie, nicht aber in der eigentlichen Systematik unterscheidet. Da aber
die Setzereipraxis hinsichtlich der morphologischen Exaktheit keine übertriebenen An¬
sprüche stellt, können wir dort, wo es sich, wie in unserem Falle, sowohl um eine feinere
typologische Unterscheidung als auch um die notwendige Äußerung der entwicklungs¬
geschichtlichen Beziehungen handelt, mit dieser Klassifizierung nicht auskommen.
Ich mußte also in meiner eigenen Einteilung manchmal ziemlich stark von den der¬
zeitigen Gewohnheiten abgehen, aber im ganzen wieder nicht so radikal, daß dies dem
an die alte Klassifikation und Terminologie gewohnten Leser die Übersicht des zu¬
sammengefaßten Stoffes erschweren würde. Im Grundkonzept stützte ich mich auf
die Klassifikationsprinzipien, die sich bei der Einteilung der historischen Schriften
hervorragend bewährt haben und auch den modernen Druckschriften völhg entspre¬
chen. Die Notwendigkeit einer genaueren Klassifikation dieser Schriften wurde aber
außer von mir auch anderweitig verspürt. Während der Drucklegung der ersten tsche¬
chischen Ausgabe dieses Buches zeigten sich hier und da im Ausland neue Vorschläge
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