DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
von der Morrisschen Schule im übrigen natürlich energisch abgelehnt wird. Weder
Edward Johnston noch Eric Gill begnügten sich in ihren Inschriften ausschließlich
mit Majuskeln, vielmehr verwendeten sie auch in Stein die kleinen Alphabete der
Antiqua und Itahka, was bei so orthodoxen Schriftkünstlern nicht weniger überrascht.
Es ist interessant, daß zur Rehabilitierung der Grotesk als Inschriftenschrift merk¬
würdigerweise ebenfalls Edward Johnston, der Hauptapostel der Schrifterneuerungs¬
bewegung, den Impuls gab. Johnston - betraut mit der Aufgabe, eine Schrift für die
Inschriften der Londoner U-Bahn auszuarbeiten - hielt die verschmähte Grotesk für
den diesem Zweck am besten entsprechenden Schrifttyp, aber er verarbeitete sie ganz
frei, wobei er sich an die Konstruktionsordnung der klassischen römischen Monu¬
mentalschrift anlehnte (Tarr). Das Ergebnis war im Jahre 1916 eine Schrift, an der
wirklich nur wenig auszusetzen ist (Abb. 254). Die Proportionen beider Alphabete
sind sehr gut ausgewogen, die Fette der Zeichnung ist dem Zweck angepaßt und bei
alledem ist die Lesbarkeit hervorragend. Als nicht gelungen kann man die Zeichnung
der Majuskeln M und S bezeichnen, und auch die Minuskel l ist nicht sehr glücklich
gelöst. Nach Johnston kamen dann alle modernen Schriftkünstler mit eigenen Va¬
rianten der Inschriften-'Sans-Serif, um mit ihnen nicht nur gemalte, sondern auch
steinerne Inschriften auszuführen.
Als Beispiel für eine Schrift des dritten Typus, die sich in englischen gemeißelten
und gemalten Inschriften großer Beliebtheit erfreut, möchte ich ein Alphabet an¬
führen, das Percy J. Delf Smith neben anderen Schriften verwendet und in seinen zahl¬
reichen schriftkünstlerischen Publikationen, wie z. B. neuerdings in dem Handbuch
Civic and Memorial Lettering aus dem Jahre 1946 reproduziert (Abb. 255). Die
Grotesk-Antiqua dieses Autors, die er treffend Petit-Serif nennt, ist im wesenthchen
eine Grotesk von uniformer Stärke der Schriftzeichnung und mit kleinen, kaum merk-'
liehen Serifen, die aber doch durch eine bestimmte Verfeinerung des üblichen Grotesk-
Schriftbildes zur Erhöhung der graphischen Wirkung beitragen und vielleicht in ge¬
wissem Maße auch die Lesbarkeit des Textes unterstützen.
Es würde zu weit führen, wenn wir uns an einer Übersicht des gegenwärtigen Standes
der Inschriftenschriften auch in anderen Ländern versuchen wollten, die übrigens in
dieser Beziehung größtenteils unter direktem Einfluß des englischen Beispiels stehen.
Bevor wir aber zu den modernen Schriften einer weiteren Kategorie übergehen, sei
dieser leider sehr flüchtige Überblick der modernen Inschriftenschriften mit der bloßen
Feststellung abgeschlossen, daß der unklare Zustand in der modernen Inschriftenkunst
weiter andauert, die historisierenden Tendenzen zwar bestimmte qualitative Verbes¬
serungen gebracht haben, es aber zweifelhaft bleibt, ob wir uns auf diesem Weg dem
niemals erreichten Ideal einer wirklich modernen Inschriftenschrift nähern oder uns
noch mehr davon entfernen. Das ist jedoch ein Anhegen auch anderer Gebiete der
modernen Schriftkunst und wir werden uns mit dieser Frage später noch eingehender
beschäftigen.
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In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits mehrfach eine Tatsache festge¬
stellt, auf die wir übrigens schon in diesem Kapitel stießen, nämlich daß seit der Zeit
der Entdeckung des Buchdrucks die weitere formale Entwicklung der Lateinschrift
dem Schaffen der Stempelschneider vorbehalten war und daß im Gegensatz zu älteren
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