MODERNE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
Abstand und widmen wir ihnen etwas mehr Aufmerksamkeit, indem wir auf einem
kleinen Spaziergang durch eine behebige belebte Straße einer modernen Großstadt
mit ihren Aushängeschildern, Hinweisen, Anzeigen, Neonschriften, Orientierungs¬
und Warntafeln, ungeachtet der gedruckten Plakate und Aushänge die Stilzugehörig¬
keit der Schriften prüfen. So stellen wir sehr leicht fest, daß sich die moderne In¬
schriftenkunst fast alle Formen der Inschriften-, Buch- und Kursivschriften, die jemals
in der jüngeren oder älteren Geschichte der Lateinschrift vorkamen, angeeignet hat.
Und jenen Schriften, die als moderne ausgegeben werden, kann man - auch wenn sie
aus dem ehrlichen Bemühen um eine moderne schriftkünstlerische Äußerung ent¬
standen sind—größtenteils sehr leicht den von historischen Beispielen ausgehenden inspi-
rativen Impuls nachweisen. Wenn die moderne Inschriftenkunst somit ihren eigenen,
nur diesem Fach vorbehaltenen Charakter einbüßte, so verlor sie gleichzeitig mit den
historisierenden Tendenzen auch den Charakter ihrer Zeit. Man kann also wirklich
nur mit bedeutenden Einschränkungen die heutigen Inschriftenschriften in ihrer Ge¬
samtheit als moderne Schriften bezeichnen.
Es ist allerdings eine andere und immer noch offene Frage, ob die Hinwendung
zu bewährten historischen Mustern dem qualitativen Gesamtniveau des graphischen
Aspekts unseres Miheus förderlich war. Der in dieser Beziehung unvoreingenommene
Beurteiler muß - wenn auch mit Einschränkungen - zugeben, daß die Inschriften mit
diesem Beitrag viel gewannen, da es offensichtlich besser ist, eine gute alte Schrift zu
verwenden, als eine zeichnerisch zweifelhafte Neuheit. Zu diesem günstigen Urteil
trägt auch die Meinung einiger Kenner bei, daß nur ein Kennenlernen und Einleben
in die graphischen Werte, durch die sich beispielsweise die klassischen Schriften des
alten Roms oder der Renaissance auszeichnen, einen Fortschritt auf dem Weg zu einer
wirklich guten und modernen Schrift ermöglicht. Von diesem Gesichtspunkt aus kann
man als positiv und verdienstvoll die Arbeit jener zahlreichen Apostel der klassischen
Schriftkunsttradition werten, die durch ihre praktische oder publizistische Tätigkeit
im letzten halben Jahrhundert in dieser Richtung vordrangen. Die diesbezüglich
besten und auf Schritt und Tritt sichtbaren Ergebnisse erzielten sie in England und
den angelsächsischen Ländern, wo man der Frage einer guten Schrift immer größte
Aufmerksamkeit schenkte und schenkt. Dort wuchs aber und wächst auch heute noch
die Fachliteratur in beneidenswerter Zahl um das grundlegende Werk Edward John¬
stons und seines Schülers Eric Gill empor. Dank diesen Meistern und einer Reihe von
Nachfolgern hat sich die englische Schriftkunst heute auf dem Gebiet der Inschriften
monumentalen Charakters annähernd zu drei Hauptschrifttypen stabilisiert, die vor
allem aus der Ordnung der römischen klassischen scriptura quadrata oder ihrer Re¬
naissance-Modifikation, aus der Konstruktion der gleichen Vorlage in Form moderner
enghscher Sans-Serifen, und schließlich aus einem gemischten Typus hervorgegangen
sind, den wir bereits als Grotesk-Antiqua erkannt haben. Sicher wäre es möglich, eine
ganze Reihe von Beispielen moderner englischer Modifikationen der altrömischen
Monumentalschrift anzuführen, darunter sehr genaue Kopien altertümhcher Muster.
Interessanter sind auf verschiedene Weise modernisierte Schriften, wie sie Edward
Johnston und danach seine Schüler in ihrer schriftkünstlerischen Praxis verwendeten.
So ist z. B. die Schattenachse im Alphabet Eric Gills von 1907 senkrecht (Abb. 252,
253), und die Zeichnung einiger Buchstaben entspricht mehr dem Geist der Renais¬
sance. Der Bildhauer Gill neigte hier schließlich zur geometrischen Konstruktion, die
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