DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
der Konstruktion der Lateinschrift waren. Dieses allgemeine Gepräge erhielt sich die
Inschriftenkunst bis zum ersten Weltkrieg. Zu dieser Zeit begann sich jedoch überdies
auch in den Inschriften mehr oder weniger deutlich der historisierende Einfluß der
Erneuerungsbewegung der Morris-Johnstonschen Kalhgraphieschule zu äußern.
In den Jahren kurz nach dem ersten Weltkrieg lebte in den Inschriften monumen¬
talen und ephemeren Charakters immer noch die Tradition des Schriftschaffens des
19. Jahrhunderts mit ihrem ganzen Repertoire, verschiedenen Schriften des gotischen
Typus, den mageren und fetten, nichtdekorierten und ornamentalen klassizistischen
Majuskeln und Minuskeln, Antiqua- und Italika-, Egyptienne- und Italienne-, Tosca-
nienne- und Groteskschriften, und natürlich auch mit den kalhgraphischen, bei Aus¬
hängeschildern besonders behebten klassizistischen Schreibschriften. Andererseits kam
auch die klassische scriptura monumentalis wieder zur Geltung, desgleichen verschie¬
dene Schriften des Renaissancetypus und moderne Schriften im alten Stil. Man darf
aber auch die zahlreichen Maler- und Bildhauer-Varianten aus der verhältnismäßig
kurzen Zeit des Jugendstils nicht vergessen, durch den diese Vielfalt noch bunter
wurde. Auch heute ist es nicht schwer, sich diesen Zustand im Bereich der Schriftkunst
an alten öffentlichen Gebäuden und Denkmälern, und vor allem an den Grabsteinen
der Friedhöfe größerer Städte zu vergegenwärtigen. Beispielsweise der Olschaner Fried¬
hof in Prag ist eine wahre Mustersammlung des Inschriftenschaffens dieser Periode.
Aus dem Überblick dieses ganzen Formenreichtums der modernen Inschriftenkunst
wird schon auf den ersten Blick deutlich, daß es sich in der überwiegenden Mehrzahl
um Schriften handelt, die ursprünglich als Druckschriften konzipiert und verwendet
wurden. Die Zweifel an der Daseinsberechtigung einer besonderen Kategorie für die
modernen Inschriftenschriften sind also für das erste Viertel unseres Jahrhunderts
berechtigt.
Dieser Zustand war typisch für die Verhältnisse nicht nur in Böhmen, sondern im
ganzen Kulturbereich der Lateinschrift. Hier und da wurde allerdings bestimmten
Schriftarten der Vorzug gegeben, wie z. B. in Deutschland, wo die bevorzugten In¬
schriftenschriften die des gotischen Typus waren, oder in Frankreich, wo der Geist
des Didotschen Klassizismus vorherrschte und übrigens heute noch überwiegt, aber
überall war mehr oder weniger der Tribut bemerkbar, den die Inschriftenschriften
der Typographie zollten. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen veränderte
sich das Gesamtaussehen der Inschriften, einerseits infolge der Bemühungen der Ver¬
treter der Schrifterneuerungsbewegung, andererseits durch die natürliche Änderung
des Allgemeingeschmacks, der die Schriften der eben vorausgegangenen Periode, d. h.
des Jugendstils und einige vor allem ornamentale Schriften des 19. Jahrhunderts all¬
mählich ausschaltete. Die Lücken im Schriftenrepertoire wurden jedoch durch die
nicht weniger zahlreichen Rephken historischer Schriften nicht nur der Inschriften-,
sondern auch der Buchschriften und ihrer modernen Modifikationen ausgefüllt.
Während man insofern eine Verbesserung erreichte, als sich wenigstens in wichtigen
Inschriften monumentalen Charakters die Schriftpraxis auf mehr oder weniger ge¬
glückte Versionen der klassischen römischen Majuskel und deren Konstruktion in
Form der modernen Druck-Groteskschriften beschränkte, schwelgten die gemalten
Inschriften dagegen in einer noch größeren Vielfalt der Schriften, als dies jemals zuvor
der Fall gewesen war, aber die eigenthchen graphischen Qualitäten wurden immer
seltener. Nehmen wir zunächst vom qualitativen Aspekt der modernen Inschriften
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