DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
dessen hübsches Ensemble nur ein wenig von der minder geglückten Zeichnung der
Buchstaben F, G und T gestört wird.
In die zeithch gleiche Periode werden die sehr schönen, mit handschrifthchen An¬
merkungen versehenen Konstruktionszeichnungen der Buchstaben G und R des klas¬
sischen monumentalen Alphabets eingeordnet, denen wir manchmal in der Fach¬
literatur als einem Werk Leonardo da Vincis begegnen (Taf. VIII). Diese Zeichnun¬
gen aus der Privatsammlung von C. L. Ricketts in Chicago publizierte der bekannte
amerikanische Schriftkünstler Frederic W. Goudy in seiner Abhandlung The Roman
Alphabet, its origin and estetic development (Ars Typographica, 1926), mit dem Hin¬
weis, daß es sich um zwei Blätter handle, die aus einer ganzen, ein vollständiges
Alphabet umfassenden Serie von Zeichnungen stammen, angeblich einem Werk Leo¬
nardo da Vincis aus der Zeit um 1480. Die sensationelle Entdeckung wurde meines
Wissens leider weder durch die Veröffentlichung der übrigen Zeichnungen noch durch
eine ausführhche Erläuterung ihrer Herkunft ergänzt und begegnete daher dem be¬
greiflichen Mißtrauen der Forscher, die im Hinblick auf die dunkle Herkunft und die
negativen Ergebnisse der kunsthistorischen und formalen Analyse dieser Blätter die
Autorschaft Leonardos völlig ausschließen.
Damit wird allerdings auch gleichzeitig die Theorie F. W. Goudys und anderer
weniger skeptischer Autoren widerlegt, daß diese angeblich leonardesken Zeichnungen
als ursprüngliche, in alten Quellen des 16. Jahrhunderts zitierte Vorlagen für den
mit Holzschnitten illustrierten Anhang des Buches Divina Proportione gelten können,
das der gelehrte Mönch und Mathematikprofessor Frate Luca Pacioli de Burgo schrieb
und zur Auflage vorbereitete und das im Jahre 1509 von Paganino de'Paganini in
Venedig gedruckt wurde, ein berühmtes Buch, das bis in die jüngste Zeit, wie bereits
erwähnt, für das erste Dokument einer geometrischen Konstruktion der Schrift über¬
haupt gehalten wurde. Wenn die Entdeckung der beiden oben angeführten italie¬
nischen Vorgänger seine chronologische Priorität widerlegt hat, so kann dagegen
keineswegs seine unzweifelhafte Priorität hinsichtlich der Bedeutung und des Einflusses
bestritten werden, der sich so stark auf die zeitgenössische - und nicht nur italie¬
nische - Schriftkunst und in gewissem Maße auch auf die weitere Entwicklung aus¬
wirkte. Pacioh soll die Handschrift seines Lodovico il Moro gewidmeten Traktates
in mehreren Abschriften bereits einige Zeit vor der Veröffentlichung im Druck be¬
kanntgegeben haben, woraus geschlossen wurde, daß er der erste war, der diesen Stoff
bearbeitete. Doch sehr bald, vielleicht noch zu seinen Lebzeiten, wurden Zweifel an
der ausschließlichen Originalität seiner Arbeit geäußert. Als eigentlicher Urheber des
gesamten Traktates einschließlich seines Bildteils wurde schon damals vor allem Leo¬
nardo da Vinci ausgegeben, was übrigens im Hinblick auf die enge Freundschaft
dieses so vielseitigen Künstlers mit dem Mathematiker Pacioh sehr wahrscheinlich
klang. Diese Auslegung wurde später außerdem durch die Behauptung belegt, daß
unter Leonardos Papieren Zeichnungen gefunden wurden, die Paciohs Schriftkon¬
struktionen sehr ähnelten, und das sollten in jüngster Zeit auch die genannten Blätter
aus der Privatsammlung in Chicago beweisen. Der älteste Beweis für die Zweifel an
Paciohs Urheberschaft ist aber die Beschuldigung, die im Jahre 1525 angeblich auf
Grund von Aussagen nicht genannter Italiener - also nicht sehr glaubwürdig -
Geoffroy Tory erhob, daß nämlich Luca Pacioh Leonardo sowohl die Zeichnungen
als auch die Abhandlung über die Schriftkonstruktion entwendet habe. Diesen Ver-
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