KAPITEL III. DIE LATEINSCHRIFT DER GEGENWART
MIT DEM VORANGEGANGENEN Kapitel war der Weg, den wir am sechstau¬
sendjährigen Strom der Entwicklung unserer Schrift entlang von seinen Quellen her
zurückgelegt haben, zu Ende. Im vorhegenden Kapitel wollen wir uns also nur ein
wenig umsehen und uns die Frage stellen, wohin wir eigentlich am Ende dieser langen
Reise gelangt sind. Es könnte scheinen, daß die Antwort auf eine solche Frage höchst
einfach, wenn nicht überflüssig ist. Wir sind doch dorthin zurückgekehrt, von wo
wir ausgingen und wo wir zu Hause sind, nämlich in die Gegenwart, die wir ver¬
ständlicherweise sehr gut kennen, da wir darin leben. Wenn es aber richtig ist, daß
wir gewöhnhch unserer unmittelbarsten Umgebung die geringste Aufmerksamkeit
schenken, so ist die Schrift hierfür eine besonders nachdrückliche Bestätigung. Die
Schrift, dieser so charakteristische Faktor jeder, und besonders der modernen Zivilisa¬
tion - die gerade am Grad der Kenntnis oder vielmehr Unkenntnis der Schrift, also
dem Prozentsatz des Analphabetismus gemessen wird — stellt heute eine ebenso selbst¬
verständliche und alltägliche Tatsache dar, wie das tagtäghche Milieu, dessen Existenz
uns zwar bewußt ist, an dem wir aber sonst ohne näheres Interesse vorübergehen.
Der Durchschnittsbürger, der sich alle Vorteile dieser größten und grundsätzlichen
Entdeckung des menschlichen Geistes zunutze macht, nimmt die Mannigfaltigkeit
ihrer zeitgenössischen Formen gar nicht wahr, er vergegenwärtigt sich höchstens, daß
die Schrift klein oder groß, leserhch oder unleserlich, geschrieben oder gedruckt sein
kann, und damit ist sein gesamtes Interesse und sein Unterscheidungsvermögen wohl
auch zu Ende. Ganz anders erscheint die behandelte Frage demjenigen, der zur Schrift
in nähere Beziehung tritt und vor der Notwendigkeit steht, aus der beinahe unüber¬
sehbaren Vielzahl der formalen Varianten, die sich im Verlauf der ganzen langen
Entwicklung der Lateinschrift anhäuften, eine schöne oder geeignete Schrift auszu¬
wählen. Diese üppige Vielfalt der Schriftformen ist eine spezifisch moderne, den älteren
Stilperioden fremde Erscheinung, denn eine jede dieser Perioden kam mit nur wenigen
Schriften des gleichen Stiltypus und von begrenztem Verwendungszweck aus. Gerade
dieses nie dagewesene und stillose Formengemisch, in das die Entwicklung der Schrift
heute mündet, erzwingt eine ebenso dringende Notwendigkeit der Orientierung wie
jede beliebige historische Epoche. Früher oder später entdeckt aber jeder, der sich
ohne entsprechende Vorbereitung solchermaßen zu orientieren versucht, daß das nicht
nur eine unbequeme Aufgabe ist, sondern daß man den geforderten Überblick eines
so reichen und vielgestaltigen Stoffes ohne vorausgehende Kenntnis der Geschichte
der Lateinschrift - wenn auch in Umrissen - nur schwer gewinnen kann. Diese Auf¬
gabe denen zu erleichtern, die sich in den modernen Schriften zurechtfinden wollen,
war eigentlich der Hauptgrund für die Herausgabe dieses umfangreichen Buches.
Ausgestattet mit den erforderlichen Kenntnissen der Entwicklung der Lateinschrift
in den aufeinanderfolgenden historischen und Stilepochen könnten wir also eine Ein¬
teilung ihrer heutigen Formen nach denselben Grundsätzen der Klassifikation ver¬
suchen, die sich bei den Schriften der Vergangenheit durchaus bewährt haben. Wir
müßten somit die zeitgenössischen Schriften vor allem nach der Art ihrer Bestimmung
trennen und zunächst in drei Hauptkategorien unterteilen: Inschriften-, Buch- und
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MODERNE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
Kursivschriften. Wir haben aber schon festgestellt, daß die traditionelle Einteilung
der Schriftformen im 19. Jahrhundert, als die Grenzen zwischen diesen Anwendungs¬
bereichen der Schrift verwischt wurden, stark an Gültigkeit eingebüßt hat. Die Buch¬
schriften gingen in die umfangreiche und bunte Kategorie der Druckschriften ein; die
Schriften einer Kategorie wurden auch in anderen Kategorien übernommen, was vor¬
her wahrscheinlich als grobe Versündigung angesehen worden wäre. Die Entwicklung
verlief aber nichtsdestoweniger auch weiterhin in dieser Richtung, so daß wir heute
vor der Frage stehen, ob die MODERNEN INSCHRIFTENSCHRIFTEN noch als
besondere Kategorie aufgefaßt werden können. Aber das ist nicht alles, denn zum
Zweifel an dem einen Teil des Namens kommt gleichzeitig der Zweifel am anderen :
Kann man für Schriften moderner Inschriften wirklich und mit Recht die Bezeichnung
'modern' verwenden? Wenn wir schon das Problem auf diese Weise angeschnitten
haben, wollen wir damit eine Übersicht der modernen Schriftkunst auf diesem ersten,
wenn auch problematischen Gebiet einleiten und zunächst überprüfen, inwieweit die
beiden Zweifel berechtigt sind.
Im Vergleich zu den historischen Analogien erwuchsen der modernen Inschriften¬
kunst seit dem 19. Jahrhundert neue, zuvor unbekannte Aufgaben. Die ursprünglich
epigraphische, monumentale Bestimmung wurde durch den jäh wachsenden Bedarf
ephemerer Inschriften zum Zweck aktueller Propaganda aller Art in den Hintergrund
gedrängt, und in ihren Diensten mußte leider jede Rücksicht auf die alten Traditionen
des Schrifthandwerks den Interessen der neuen Auftraggeber untergeordnet werden.
Zunächst sparte man vor allem an Material und an der Ausführung; die plastischen
Inschriften in Stein, Metall oder Putz wurden immer seltener neben Inschriften, die
auf Holz, Glas, Papier gemalt wurden, und neben den Neonleuchtschriften sowie ver¬
schiedenen gedruckten Inschriften, denn auch solche muß man in diesem Zusammen¬
hang in Betracht ziehen. Im Kampf der gegensätzhchen kommerziellen und öffent¬
lichen Interessen war eine universale Einheit der Schrift eines einzigen Stiltypus
unerwünscht. Die klassische römische Majuskel, die in zahllosen zeitgemäßen Va¬
rianten für alle Inschriftenzwecke den Steinmetzen und Schriftmalern von der Re¬
naissance bis zum 19. Jahrhundert gute Dienste geleistet hatte, war von geringer
Wirkung in einer Situation, bei der es nicht um den harmonischen Zusammenklang
der Inschriften mit der Architektur zu einem einzigen ästhetischen Ganzen ging, son¬
dern vielmehr um möglichst markante Hervorhebung des Textes aus seiner Umgebung
im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des potentiellen Interessenten. Um
diese Aufmerksamkeit zu wecken, waren auffallende, neu wirkende Mittel erforderlich,
in unserem Fall neue Formen der Inschriftenschrift, die sich um jeden Preis irgendwie
von alledem unterscheiden mußten, woran die Augen der Bevölkerung in dieser Be¬
ziehung bisher gewöhnt waren. Ein begrüßenswerter Beitrag war dem Propaganda-
Inschriftengewerbe daher die Produktion der Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts,
die infolgedessen ohne Zögern nicht nur auf Inschriften von vorübergehender Be¬
deutung, sondern auch auf Inschriften monumentalen Charakters übertragen wurden.
Bald jedoch vermochte auch die unermüdliche Produktivität der Dessinateure und
Gießereien von Akzidenzschriften den Hunger nach unterschiedlichen Schriften nicht
zu stillen, man suchte also einerseits nach Inspirationen in der Geschichte, andererseits
dachte man sich 'phantastische' Alphabete aus, die - wie schon an der Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert - häufig Zeugnis eines höchst eigenwilligen Umgangs mit
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