DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
mittlung. Das war ganz natürlich, denn hier, in Ländern mit kaum entfaltetem Schrift¬
gußgewerbe, beherrschte die deutsche Schriftgußindustrie seit jeher den gesamten
Druckschriftenhandel bis in die Zeit der allgemeinen Verbreitung amerikanischer
Setzmaschinen, die natürhch die Bestellung amerikanischer und später auch engli¬
scher Schriften nach sich zog. Anders verlief die Entwicklung der Neorenaissance im
tschechischen Buchdruck, dessen bahnbrechende Persönlichkeit, der hervorragende
Maler und Graphiker Vojtëch Preissig, sich seit seinem Auftreten im Jahre 1897 aus¬
schließlich auf angelsächsische Vorbilder orientierte. Als dieser Künstler erkannte,
daß ohne eine geeignete Druckschrift kein schöner Druck erzielt werden kann, wie
künstlerisch auch seine übrigen Bestandteile sein mögen, richtete er sich im Jahre 1905
in Prag eine eigene private Druckerei ein. Es ist für das künstlerische Profil Vojtëch
Preissigs besonders typisch, daß er mit beträchtlichem Kostenaufwand direkt aus
Amerika neben mehr oder weniger gemäßigten Schriften, wie es die Cheltenham und
Ohio waren, auch die sehr exklusive Schrift Arlington bestellte, die zwar mit ihrer
dunklen Farbe an die historischen Vorlagen der Neorenaissanceschriften erinnerte,
aber mit ihrer Zeichnung diese Renaissancetradition gleichzeitig verneinte, was auch
der linke verstärkte Zug des Buchstabens A bestätigt. Materieller Mißerfolg zwang
Preissig jedoch, seine Werkstatt im Jahre 1910 aufzulösen und in die Vereinigten
Staaten auszuwandern, von wo er nach dem ersten Weltkrieg zurückkehrte, um bei
seinen Unternehmungen weitere Enttäuschungen zu erleben und schließlich 1944 tra¬
gisch im Nazi-Konzentrationslager Dachau den Märtyrertod zu erleiden.
Inzwischen wuchs in Böhmen eine Reihe neuer Mitarbeiter am schönen Buch heran ;
sie machten gute Fortschritte in der Richtung, die ihnen der Kritiker F. X. Salda in
seiner Abhandlung Kniha jako dilo umëlecké (Das Buch als Kunstwerk) wies (abge¬
druckt 1905 in der Zeitschrift Typographia). Keiner dieser Künstler, Graphiker und
führenden Typographen - wie Zdenka Braunerová, Karel Dyrynk, V. H. Brunner,
Frantisek Kysela, Jaroslav Benda, Slavoboj Tusar, Method Kaláb u. a. - versuchte
jedoch in der Zeit bis zum ersten Weltkrieg eine tschechische typographische Schrift
hervorzubringen oder hatte beim Versuch ihrer Realisierung Erfolg, so daß die tsche¬
chische Typographie von unserem Standpunkt aus bis zu dieser Zeitenwende keinen
besonderen Beitrag aufzuweisen hat. Die tschechischen Bemühungen um eine neue
Schriftkunst blieben einstweilen auf dem Papier graphischer Entwürfe und ihrer pho¬
tomechanischen Reproduktionen. Zu einer erfreulichen Wendung kam es in dieser
Beziehung erst nach 1918, aber wie erfolgreich die Autoren der ersten neuzeitlichen
tschechischen Druckschriften waren, werden wir im Zusammenhang mit der Über¬
sicht der gegenwärtigen Schriftkunst, der das folgende abschließende Kapitel gewid¬
met ist, zu werten versuchen.
Man kann die Reform der Neorenaissance als letzten bedeutenden Ausdruck der
Bemühung um Stileinheit ansehen, dem wir in der Geschichte der Lateinschrift be¬
gegnen. Im Gegensatz zu der die Renaissance kennzeichnenden Hinwendung zur An¬
tike blieb die Rückkehr der Neorenaissance zu den Formen der Renaissance, wie man
sieht, ein vergeblicher Ausflug in die Geschichte, denn er wurde offensichtlich nicht
durch das erwartete Ergebnis belohnt, daß man den richtigen Weg wieder gefunden
hätte, auf dem die Entwicklung der Lateinschrift erneut zu wirklich modernen Formen
fortschreiten könnte. Es zeigte sich, daß man aus der Sackgasse des Klassizismus keinen
Ausweg findet, wenn man bis zu jener Wegkreuzung zurückkehrt, wo sich die Ent-
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DIE NEORENAISSANCE-SCHRIFTKUNST
wicklung der Lateinschrift bereits einmal in die beiden Strömungen der Schriften des
gotischen und des Renaissancetypus teilte. Nicht minder zweifelhaft erscheint sodann
die Rückkehr in die noch fernere Geschichte, wie man sie im Interesse einer parallelen
Reform der modernen Kursiv anstrebte. Es wäre jedoch verfrüht, ein endgültiges Ur¬
teil zu fällen, denn die Neorenaissance-Tendenzen, die zwar sehr erschlafft, aber immer
noch lebendig sind, können derzeit noch nicht als Phänomen einer bereits endgültig
abgeschlossenen Vergangenheit angesehen werden.
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