DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
hunderte in Südengland geschrieben wurde, und darauf begründete er seine etwas
annehmbarere Schreibschrift, die sogenannte foundational hand (Fairbank). Johnstons
Lehre und Methode, die er selbst in seinem außergewöhnlich weit verbreiteten und
übersetzten Buch Writing and Illuminating and Lettering von 1906 zusammenfaßte,
hatte so durchdringenden Widerhall und Einfluß, daß man sie auch heute noch nicht
als völlig überwunden bezeichnen kann, und es scheint, daß es noch eine Reihe von
Jahren dauern wird, bis das rücksichtliche Wesen seines kalhgraphischen Mediäva¬
lismus - nach dem er sich, wie wir sehen werden, auch selbst nicht immer richtete -
allgemein erkannt wird. Trotz allen Lärms und aller Ausdauer gelang es den so
zahlreichen Vertretern der Morrisschen Kalligraphieschule keineswegs, die moderne
Schreibpraxis dahin zu bringen, wo sie sie haben wollten. War schon der Morrissche
typographische Historismus zu seiner Zeit ein Stil- und technischer Anachronismus,
so stellten einen noch größeren die Bestrebungen Edward Johnstons und seiner An¬
hänger dar, den modernen schreibenden Menschen zu nötigen, daß er sich einer Kiel¬
feder bediene und mühsam und schleppend nach noch älteren Vorlagen und formalen
Prinzipien der historischen oder modernisierten Unzialen, Halbunzialen, altitalischen
oder karolingischen Minuskeln u. a. seine Hand übe.
Die Johnstonschen Bemühungen mußten in der Folge auch aus anderen Gründen
scheitern. Vor allem vergaß man, daß die Kalligraphie mit dem Ende des 19. Jahr¬
hunderts jeden Sinn ihrer Existenz verloren hatte. Der Begriff der Schönheit einer
Schreibschrift bekam einen ganz neuen Inhalt, man erblickte sie nicht mehr in der
vollendeten Ausführung irgendeiner standardisierten und universalen Schreibschrif¬
tenform, sondern im individuellen graphischen Ausdruck des Schreibenden. Aus der
Kanzlei, der wichtigsten Domäne der Kalligraphie seit der Zeit der Erfindung des
Buchdrucks, wurde diese Kunst endgültig durch die nicht weniger umstürzende Er¬
findung und Verbreitung der Schreibmaschine verdrängt, deren Verwendung heute
so allgemein ist, daß sie auch in Schriftstücken privaten Charakters üblich wurde.
Welches Wirkungsfeld ist also heute der Kalligraphie verblieben? Ein sehr geringes,
denn 'schön' zu schreiben ist nur in den seltenen Fällen handschrifthcher Original¬
diplome und Adressen notwendig, deren Aufgabe und Wirkung eigentlich nicht öffent¬
lich, sondern ausschließlich auf den Ehrenden und den Geehrten beschränkt ist.
Derselbe Zweck und die gleiche Wirkung werden schließlich auch mit ähnlichen typo¬
graphischen Unikaten erreicht, die ungleich weniger mühevoll und kostspielig und
übrigens heute immer häufiger sind. Kann also der massenweise Unterricht einer
historisierenden Schönschrift, die auf so bescheidene Anwendungsmöglichkeiten be¬
schränkt ist, einen Nutzen bringen? Kann man erwarten, daß heute noch jemand auf
Schreibinstrumente, wie sie die Schreibmaschine oder der Füllhalter darstellen, ver¬
zichtet und sie gegen die anachronistische, breit zugeschnittene Kielfeder der mittel¬
alterlichen klösterlichen Skriptorien eintauscht? Die Richtung der Wiedergeburt der
Schreibschrift, wie sie die Johnstonsche Kalligraphienschule einschlug, war ebenfalls
von allem Anfang an schon deshalb abwegig, weil ihre ideale Schreibschrift nicht von
einer Kursiv abgeleitet war - sei es auch eine historische, und hierfür konnte zum Bei¬
spiel die cancellaresca der Renaissance als Muster dienen -, sondern weil der Unter¬
richt historischer formaler Buchschriften propagiert wurde, die bereits zu ihrer Zeit
so viel Sorgfalt und Zeit erforderten, wie das Tempo der modernen Epoche sie in
keiner Weise gewähren kann.
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DIE NEORENAISSANCE-SCHRIFTKUNST
Der Einfluß der Lehre und des Beispiels William Morris' und seiner Anhänger ver¬
breitete sich außergewöhnlich rasch und intensiv über das gesamte westliche Kultur¬
gebiet. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß das in bestimmtem Maße der äußeren Seite
der Buchproduktion förderlich war, wenn wir auch diese universelle Wiedergeburt
der Typographie heute schon mit minder vorbehaltloser Bewunderung beurteilen. In
England selbst wuchs das Interesse am schönen Buch und der schönen Schrift außer¬
gewöhnlich an, stiegen die Ansprüche der Verbraucher, und damit erreichte auch der
Stand der englischen Buchproduktion ein beneidenswertes Niveau und gleichzeitig
beginnt eine nicht minder beneidenswerte Blüte der typographischen Fachhteratur
und der einschlägigen Zeitschriften. Die Arbeit der neuen Schriftkünstlergeneration
wurde von der parallelen Tätigkeit der Theoretiker dieses Faches unterstützt, z. B.
F. Isaac, Stanley Morisons, A. F. Johnsons und einer ganzen Reihe anderer. Aus den
Morrisschen Grundsätzen verflüchtigte sich in England jedoch sehr bald vieles von
dem, was sie an unhaltbaren Anachronismen enthielten, so daß die englische Typo¬
graphie bei ihrem Übergang zur Gegenwart viel weniger von Morrisschen Vorurteilen
belastet war, als z. B. die deutsche oder tschechische. Außerhalb Englands machte
sich der Morrissche Einfluß - wie wir gesehen haben - am unmittelbarsten im zweiten
englischsprechenden Land bemerkbar, den Vereinigten Staaten, wo der Boden durch
die Tätigkeit gebildeter Pioniere der schönen Typographie - vor allem waren es Theo¬
dor Low de Vinne oder der etwas jüngere Daniel Berkeley Updike - bereits vorbe¬
reitet war. Aber auch die amerikanischen Schriftkünstler dieser Schule, unter denen
wenigstens M. Fuller Benton, Will Bradley, Thomas M. Gleland, Frederic W. Goudy,
Betram G. Goodhue, Bruce Rogers und Frederic Warde aufgeführt seien, unterzogen
zum Großteil die orthodoxe Doktrin Morris' sehr bald einer Revision. Wenn sich die
Morrissche Schule der Neorenaissance-Typographie und -Schriftkunst auch überall
auf dem europäischen Kontinent viele Meister dieses Faches heranzog, erfuhr die
Lehre Morris und Johnstons doch die wärmste Aufnahme in Deutschland, wo durch
die fortlebenden Schriften des gotischen Typus ständig eine nationale Vorhebe für den
typographischen Stil des frühen Buchdrucks erhalten wurde. Besondere Verdienste
um die Propagierung der neuen Tendenz in der deutschen Schriftkunst erwarb sich
die Johnston ergebene und ihm nacheifernde Schülerin Anna Simons, deren Tätigkeit
sich um 1910 in der einheithchen Orientierung der ganzen sehr zahlreichen Gruppe
der zeitgenössischen schriftkünstlerischen und typographischen Avantgarde äußerte.
Diese war durch die uns teilweise bereits bekannten Namen Peter Behrens, Lucian
Bernhard, F. H. Ehmcke, Victor Hammer, Heinrich Jost, F. W. Kleukens, Rudolf
Koch, Paul Renner und Emil Rudolf Weiß vertreten. Die Schriftkünstler und Gra¬
phiker, die hier mehr, dort weniger zäh im weiteren Schaffen an den Lehren der
Morris-Johnstonschen Schule festhielten, beherrschten dann fast völlig die deutsche
Schriftkunst und Typographie bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, eine
Zeit, in der der einheitliche Stilcharakter der deutschen Typographie durch neue Ten¬
denzen gestört wurde, die gerade in Deutschland besonders eifrige Vertreter gewannen.
In den übrigen Ländern kam die Morrissche Erneuerungsbewegung mit verschie¬
dener Intensität zum Ausdruck und machte sich verschieden schnell geltend. In West¬
europa mit Ausnahme Frankreichs, das bekanntlich an den Schriften des klassizisti¬
schen Typus festhielt, war der Einfluß der enghschen Neorenaissance unmittelbar
wirksam; nach Mitteleuropa gelangten neue Tendenzen meist durch deutsche Ver-
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