DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
dem Jahre 1909 stammt auch eine weitere deutsche 'moderne' Schrift, die ein anderer
verdienter deutscher Schriftkünstler, Walter Tiemann, zeichnete und die wiederum
die Firma Klingspor herausgab. Dieses Unternehmen hat anscheinend überhaupt eine
außergewöhnliche Bereitschaft gezeigt, Künstlern Gelegenheit zu geben, Erfahrungen
bei der technischen Verwirklichung von Entwürfen einer typographischen Schrift zu
sammeln. Wenn ihre Zugehörigkeit zur schriftkünstlerischen Auffassung der Behrens-
Antiqua auch offensichtlich ist, erkennt man in der Tiemann-Mediäval zweifellos eine
Neorenaissance-Antiqua des venezianischen Typus, der man bestimmte Vorzüge in
der Schriftzeichnung nicht abstreiten kann, obwohl sie heute schon recht veraltet ist
(Abb. 250). Der Neorenaissance gehört auch jene Italika an, mit der diese Schrift im
Jahre 1912 ergänzt wurde und in der sich nach langer Zeit wiederum die cancellaresca
romana durch die Form der Beendigung der Oberlängen als Muster in Erinnerung
bringt. Die Schriftgießerei J. G. Schelter & Giesecke in Leipzig gab im Jahre 1910 die
Schrift Salzmann-Antiqua heraus, mit der M. Salzmann die von P. Behrens vorge¬
zeichnete Richtung weiter verfolgte. Die Salzmann-Antiqua ist allerdings etwas ge¬
mäßigter in der Behandlung des Schriftbildes, aber auch so ist sie für uns heute ein
bloßes Dokument ihrer Zeit. Im Jahre 1911 gab die Bauersche Gießerei in Frankfurt
die Schrift Kleukens-Antiqua heraus, die mit ihrem Schriftstil in starkem Maß der Tie-
mannschen Mediäval verwandt ist. Ebenso wie bei anderen seiner Schriften bemühte
sich F. W. Kleukens auch bei dieser Antiqua sehr, seine schriftkünstlerische Indivi¬
dualität und Modernität zu betonen. In diesem Streben übertraf er wirklich Tiemann
durch den Umfang der Deformation im Geist jener Zeit und verschuldete damit die
Unfähigkeit seiner Antiqua, diese Zeit zu überleben. Im folgenden Jahre 1912 wurde
die Bernhard-Antiqua herausgegeben, die der bekannte, später in den Vereinigten Staa¬
ten wirkende deutsche Schriftkünstler Lucian Bernhard für die Bauersche Gießerei
in Frankfurt zeichnete. Bis auf einige Besonderheiten, wie z. B. beim g, hat sie in der
halbfetten und mageren Version noch eine ganz annehmbare, wenn auch recht histo¬
risierende Zeichnung, aber in den Akzidenz-Varianten ist sie nicht weit von einigen
schlechten Beispielen der Akzidenz-Grotesk-Antiqua entfernt. Der zeichnerische Ty¬
pus der Schriften W. Tiemanns und F. W. Kleukens' wiederholt sich in der Schrift
Ehmcke-Antiqua der Bauerschen Gießerei aus dem Jahre 1909, die allerdings noch
weitere Besonderheiten, mit denen F. H. Ehmcke die Eigenart seiner schriftkünstleri¬
schen Auffassung zur Geltung bringen wollte, aufweist. Unverhältnismäßig besser, aber
viel stärker an die historischen Vorlagen angelehnt ist die Erbar-Mediäval, während
die Behrens-Mediäval, die im Jahre 1914 von der Schriftgießerei Gebr. Klingspor in
Offenbach herausgegeben wurde, wiederum ein Zeugnis schriftkünstlerischen Expe-
rimentierens ist. Die deutschen Schriftkünstler dieser Zeit suchten ihre Vorbilder
häufig auch in den frühen gemischten Druckschriften, denn solche Gotico-Antiqua-
schriften drangen leichter in die deutsche Typographie ein, wo bis dahin Schriften des
gotischen Typus das unerschütterliche Übergewicht hatten. Unter den so orientierten
deutschen Neorenaissance-Schriften sei hier wenigstens die Deutsch-Antiqua erwähnt,
ein Werk des auf dem Gebiet der Schriftgeschichte verdienten Hermann Deutsch,
herausgegeben 1911 von der Schriftgießerei H. Berthold in Berlin. Ähnlich wie andere
Schriften dieser Zeit ist auch diese Gotico-Antiqua eine sehr freie Paraphrase der
historischen Vorlage, ungeachtet der angestrengten Bemühung um eigene schrift¬
künstlerische Originalität.
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DIE NEORENAISSANCE-SCHREIBKUNST
Von den übrigen europäischen Buchschriften des Neorenaissancetypus, die bis zum
ersten Weltkrieg - mit dieser historischen Begebenheit kann man annähernd die Pe¬
riode des eigentlichen Bestehens der Neorenaissance-Bewegung in der Schriftkunst
abgrenzen — herausgegeben wurden, ist in den modernen Druckereien praktisch nichts
vorhanden. Es wäre also überflüssig, den Umfang dieses Kapitels mit einer nichts¬
sagenden Aufzählung von Schriften aufzublähen, die im übrigen zum größten Teil
keinen Beitrag zu der genannten Entwicklung darstellen. Eine seltene Ausnahme ist
vielleicht einzig und allein die Hollandse Mediaeval von De Roos aus dem Jahre 1912,
eine Schrift aus der Produktion der holländischen Firma Lettergieterij Amsterdam;
sie wurde später auch für die Setzmaschinen Intertype herausgegeben und ist eine
typische Neorenaissance-Antiqua mit einem leichten Anflug deutschen Jugendstils,
der sich auf das Schriftschaffen des benachbarten Holland verständlicherweise aus¬
wirken mußte. Nur interessehalber kann man hier noch erwähnen, daß die Neore-
naissance-Reform der Schriftkunst sich nicht auf das Gebiet der Lateinschrift be¬
schränkte, sondern auch die Druckschriften Osteuropas erfaßte, so daß wir in den
Musterbüchern größerer, vor allem deutscher Schriftgießereien überraschenderweise
auch griechische oder russische 'MediävaP-Schriften finden.
Die Morrissche Lehre interessierte sich nicht nur für die Schriften des Buchdrucks,
sondern griff fühlbar auch in das Gebiet der Handschriften ein. Die Kanzleikursiv und
die übliche Kursiv des 19. Jahrhunderts stabilisierten sich in der klassizistischen Form -
der englischen Schreibschrift als einzige Kursivform für alle Zwecke, und diese Schrift
wurde auch an allen Schulen vom Beginn der Schulerziehung an unterrichtet. Indem
mit dieser einzigen Form der Gesamtbedarf an handschriftlichen Ausdrucksmitteln
allgemein befriedigt werden konnte, sanken Bedarf und Absatz der kalhgraphischen
Sammelwerke des alten Typus mit den Vorlagen verschiedener Schriften, die nicht
mehr zu gebrauchen waren, und entsprechend sank darum auch im Verlauf des 19.
Jahrhunderts die Zahl solcher Publikationen. Den Hauptinhalt dieser immer selte¬
neren Handbücher bildeten neben eventuellen Vorlagen der ornamentalen Inschrif¬
tenschriften natürlich Proben der allgemeinen klassizistischen Schreibschrift und gerade
diese fiel der reformatorischen Wachsamkeit der Morrisschen Schrifterneuerungsbe¬
wegung zum Opfer. Die Morrissche Verehrung der mittelalterlichen handschriftlichen
Kodizes, die in vieler Beziehung unzweifelhaft impulsgebend waren, stellte sicher den
Beweggrund, eine folgerichtige Übertragung in die Gegenwart zu versuchen, und
rief so eine Kalligraphieschule ins Leben, die nicht weniger kategorisch und kompro¬
mißlos als ihre typographische Entsprechung die Rückkehr weit in die Vergangenheit
forderte, angeblich im Interesse der höchst notwendigen Wiedergeburt der Schreib¬
kunst. Führender Vertreter dieses kalhgraphischen Flügels der Morrisschen Bewegung
zur Erneuerung der Schrift war Edward Johnston, von Beruf Arzt, der nach einer relativ
kurzen Zeit des Studiums der Schreibkunst mittelalterlicher Handschriften mit einer
bis ins Detail ausgearbeiteten Lehrmethode der neuen Schönschrift auftrat, die formal
von längst ausgestorbenen Buchschriften abgeleitet war. Die Fragen der Schrift fes¬
selten ihn so, daß er seinen Beruf aufgab und zu einem Apostel der Wiedergeburt der
Kalligraphie wurde. Anfangs forderte er zur Verwendung einer Schrift auf, die er der
Halbunziale des 8. Jahrhunderts nachgeschaffen hatte, später wandte er sein Augen¬
merk auch der karolingischen Minuskel zu, mit der in der zweiten Hälfte des 10. Jahr-
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