DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
barocken Kupferstecher Charles Nicolas Cochin (i715-1790) allerdings gar nichts
zu tun hat. Nicht weniger umstritten ist die Schrift Naudin, die, in der Zeichnung
Bernard Naudins im gleichen Geist konzipiert, in einer Serie von mehreren Varianten
seit 1911 nach und nach ebenfalls von der Firma Deberny & Peignot herausgegeben
wurde und die wir auch in manchen Druckereien hier und da vorfinden.
Im mitteleuropäischen Buchdruck macht sich die Erneuerungsbewegung vor allem
durch die deutschen Schriften im alten Stil geltend, deren lange Reihe die hier bereits
genannten 'Mediäval' aus den Jahren 1863-1892 anführen und somit noch aus der
Zeit vor dem Auftreten William Morris' stammen. Von 1900 bis zum ersten Weltkrieg
zeigen sich dann in der deutschen Produktion nichtgotischer typographischer Schriften
zwei mehr oder weniger deutlich differenzierte Strömungen, deren eine weiterhin in
der genannten Richtung auf die englischen Schriften des Old-Style-Typus fortschreitet,
während sich in der zweiten die Einflüsse des Morrisschen Historismus mit den Be¬
mühungen um einen modernen oder individuellen schriftkünstlerischen Ausdruck
mischen. Aber auch unter den Schriften der ersten Art gab es beträchtliche Stilunter¬
schiede, die Neorenaissance-Reform blieb häufig kaum merklich, so daß z. B. die
Reform-Antiqua der Frankfurter Schriftgießerei D. Stempel AG von 1903 dem Klassi¬
zismus der Wilsonschen schottischen Antiqua nähersteht als der Schrift Old Style von
Miller & Richard. Von gleicher Art ist auch die noch bekanntere Augustea der Bert-
holdschen Schriftgießerei aus dem Jahre 1905, die auf den ersten Blick ebenfalls über¬
wiegend klassizistische Züge trägt. Den ausgesprochenen Charakter der Schrift Old
Style zeigt dann eine andere immer noch recht geläufige Stempeische Schrift mit der
Bezeichnung Amts-Antiqua aus dem Jahre 1909, aber er drückt sich stärker durch die
breiteren Proportionen der Schriftzeichnung als durch eine betonte Serifenkehlung
aus. Alle derartigen Schriften waren für Drucker und Konsumenten bestimmt, die
bis dahin an der klassizistischen Tradition festhielten und nicht durch zu starke Dosen
der schriftkünstlerischen Neorenaissance vergrämt werden durften.
Neben diesen und weiteren ähnlichen halbklassizistischen Schriften besaßen die
deutschen Schriftgießereien zu dieser Zeit schon viele andere, bei denen die Renais¬
sancevorlagen weitaus kühner behandelt wurden, wenn auch größtenteils mit zweifel¬
haftem Erfolg. Anderseits gibt es darunter auch Schriften mit wirklich bemerkens¬
werten zeichnerischen und Satzqualitäten, die ihnen einen sehr ehrenvollen Platz
in der geläufigen Neorenaissance-Typographie sicherten. Eine solche immer noch mit
Recht sehr beliebte Schrift ist zum Beispiel die Sorbonne der Berliner Schriftgießerei
H. Berthold AG aus dem Jahre 1905, eine deutsche Version der amerikanischen Schrift
Cheltenham. Ihre Zeichnung stimmt mit dieser Schrift in beiden Alphabeten der An¬
tiqua und Italika völlig überein, einschließlich der besonders charakteristischen Zeich¬
nung des g. Abweichend ist nur die Zeichnung des Versals W in beiden Alphabeten,
und in einigen Varianten auch die Zeichnung des Versals C¿. Im kleinen Alphabet der
Italika hat das/eine andere Form, es ist in der deutschen Version unter die Grund¬
linie verlängert, und die Buchstaben v und w sind etwas kursiver konzipiert. Sonst
hat diese von ihrem Prototyp fast nicht unterscheidbare Antiqua mit diesem auch ihre
beachtlichen Satzqualitäten gemeinsam. In einem großen Ensemble von Schriftgraden
und verschiedener Fette der Schriftzeichnung herausgegeben, erfüllt sie durchaus zu¬
friedenstellend viele Aufgaben, die heute einerseits den Repliken historischer Schriften,
andererseits den Spezialschriften des Akzidenzdrucks vorbehalten sind. Ihre auch in
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ABCDEFGHIJKLMN
OPQRSTUVWXYZjE
abcaeignijklmnopqrstuvwxyzœ
ABCDEFGHIJKLMlsr
OPQRSTUVWXYZJE
а о с a e J g nijklmnopqrstuvwxyzœ
248. Nicolas Cochin. Deberny & Peignot, igiß.
ABCDEGH1JKLMNOPR
STUVWXYZ abcdefghi
jklmnopqrs tuvwxyz 123
24g. Behrens-Antiqua. Gebr. Klingspor, ідо8.
ABCDEFGHIJKLM
NOPRSTUVWXyZ 1 23 ab
cdefghijklmnoprstuvwxyz
250. Tiemann-Mediäval. Gebr. Klingspor, ідод.
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