KONSTRUIERTE RENAISSANCE MAJUSKEL
dessen Handbuch aus dem Jahre 1509 für das erste seiner Art gehalten wurde. In den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckte man jedoch, daß Pacioli schon lange
seine Vorgänger hatte. Zunächst wurden zwei Werke aus dem 15. Jahrhundert fest¬
gestellt, von denen das ältere, schon von Theodor Mommsen festgestellte und 1874 von
Rudolf Schöne in Ephemeris Epigraphica publizierte, fast ein halbes Jahrhundert
früher datiert werden kann als das Erscheinungsjahr des Buches Paciolis. Es handelt
sich hier um einen handschriftlichen Kodex der vatikanischen Bibliothek aus der Zeit
um 1463, in dem der veronesische Adelige, königliche Beamte, Amateurarchäologe
und Sammler von Altertümern Felice Feliciano (Felix Felicianus Veronensis) sich
schon mit Problemen der Schriftkonstruktion beschäftigt. In seiner Handschrift ist
jedem Buchstaben je eine ganze Seite gewidmet, auf der unter dem kolorierten Schrift¬
bild ein erläuternder Text beigefügt wird. Leider ist das Wichtigste, die eigentliche
Konstruktion, bei der Mehrzahl der Buchstaben heute kaum noch erkennbar. Stanley
Morison meint, ohne das allerdings belegen zu können, daß an dieser Schrift auch
der Maler Andrea Mantegna mitgearbeitet habe, aber wie dem auch sei, Fehce Feli¬
ciano selbst konnte als erfahrener Kalligraph leicht alle fremde Hilfe entbehren.
Dessenungeachtet überzeugt eine Probe seines Alphabets (Abb. 8), des Ergebnisses
seiner Konstruktion nach wohl noch recht allgemeinen geometrischen Grundsätzen,
keineswegs davon, daß es ihm besonders gut gelang, sich der klassischen Ordnung des
römischen Inschriften-Alphabets zu nähern. Als Erscheinung ihrer Zeit betrachtet,
hat die Majuskel Felicianos zweifellos bereits ausgesprochenen Renaissancecharakter
und als solche gewisse Werte, die auch in moderner Zeit soviel Widerhall fanden, daß
es die enghsche Setzmaschinenfabrik Monotype für nötig hielt, Felicianos Schrift, etwas
veredelt in der Form und unter der Bezeichnung Felix Tithng, herauszugeben.
Der Widerhall von Felicianos konstruierter Renaissance-Majuskel war wahrschein¬
lich nicht einmal zu seiner Zeit gering, denn es scheint, daß gerade von Fehcianos
Prinzipien weitere italienische Autoren der Zeit vor 1500 Ausgang nahmen, unter
denen bisher nur Damiano da Moile (da Moyllum, Damianus Moyllus, etwa 1457-
1500) bekannt ist, ein berufsmäßiger Schriftkünstler und Mitghed einer Familie von
Töpfern, Glasmachern, Glasmalern, Miniaturmalern und Kalligraphen. Diese Fa¬
milienzugehörigkeit erhellt auch die Tatsache, daß sein Handbuch, das er um das
Jahr 1480 in Parma in Druck gab und das also gegenwärtig das älteste bisher be¬
kannte gedruckte Schrifthandbuch überhaupt ist, als bloßes Hilfsmittel und Muster
der Schriftpraxis verschiedener Handwerker, Steinmetzen, Keramiker, Schriftenmaler,
Graveure u. ä. herausgegeben wurde, und daß es also wahrscheinlich keine Ansprüche
auf die Verdienste eines bahnbrechenden Werkes der Schrifttheorie erhob. Die Muster
seiner Schriften wurden deshalb auch nur einseitig gedruckt, damit sie bei verschie¬
denen Gelegenheiten zu praktischer Applikation aus der Sammlung herausgenommen
werden konnten. So läßt sich auch erklären, daß dieses Werk in keiner größeren Zahl
von Exemplaren vollständig erhalten bheb und daß es bald für ganze kommende
Jahrhunderte in völlige Vergessenheit geriet. Das Alphabet, das Damiano da Moile
in seiner Sammlung vorführt (Abb. 9), hat Fehcianos Alphabet gegenüber seinen
unzweifelhaften Vorzug darin, daß es sich verhältnismäßig stark der idealen klassi¬
schen scriptura quadrata nähert, und zwar durch eine ganz einfache Teilung des
Quadrates als des grundlegenden Konstruktionsschemas. Besonders einige Buchstaben,
wie zum Beispiel В und S, kann man als sehr glücklich in diesem Alphabet bezeichnen,
35