DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
dient gemacht, daß diese Richtung des schriftkünstlerischen 'Schaffens' in den fol¬
genden Jahrzehnten einen bedeutenden Teil der Weltproduktion der Druckschrift
beherrschte.
Wenn es schon nicht den historischen Tatsachen entspricht, daß man dem Eingriff
Morris in die Neorenaissance-Reform der typographischen Schriftkunst das Primat
zuschreibt, kann man ihm dagegen das nicht geringe Verdienst um die nachweisbare
Feststellung und tatkräftige Verteidigung der lange vergessenen Tatsache nicht ab¬
sprechen, daß das Buch als Produkt auch ohne Rücksicht auf die literatische Qualität
seines Inhalts ein Kunstwerk sein kann. Zu dieser Überzeugung gelangte Morris durch
das Studium der frühen Typographie des 15. Jahrhunderts, die für ihn auch zum
Maßstab der ästhetischen Werte der formalen Seite jeglicher Buchproduktion wurde.
Die Schönheit eines Buches wuchs seiner Meinung nach um so mehr, je mehr sich das
Buch in den Methoden und Mitteln der Herstellung diesem Ideal näherte. Darum
lehnte er die Produktionsmethoden des modernen Buchdrucks ab, weil er glaubte, daß
ausschließlich in einer kleinen privaten Werkstatt und in einer geringen Zahl von
Exemplaren gute Ergebnisse erreicht werden könnten. Hinsichtlich der Druckschrift
war er überzeugt, daß einzig und allein die dunklen Schriften der frühen Drucker
schön seien und daß seit der Antiqua Nicolas Jensons, deren Zeichnung ihm als Gipfel
der Vollendung unübertrefflich schien, die typographische Schriftkunst unaufhaltsam
abgesunken sei, um schheßhch in die Tiefen des Verfalls der klassizistischen Schriften
zu geraten. Es war völhg richtig und verdienstvoll, daß Morris zu seiner Zeit die hohen
Qualitäten der venezianischen Antiqua und Typographie entdeckte und empfahl,
aber seine Schlußfolgerung war ein bedenkliches Vorurteil, bei einem Künstler seines
Formats jedoch entschuldbar. Dies gilt um so mehr, als Morris' Tätigkeit als Drucker
in vieler Hinsicht ein unzweifelhafter Beitrag zur Entwicklung war. Sie erweckte das
Interesse der Öffentlichkeit und der Inhaber kommerzieller Druckereien und Verlage
am schönen Buch, die Drucker kamen allmählich zu der Erkenntnis, daß der Buch¬
druck als Kunst aufzufassen sei und daß ein schönes Buch dem Produzenten nicht nur
persönhche Befriedigung und schmeichelhafte Anerkennung der Fachleute, sondern
schheßhch auch größeren Gewinn einbringen kann. Aus diesem Grund gab das Bei¬
spiel der Morrisschen Schriften den Anstoß zu einer Massenproduktion von Kopien
historischer Schriften desselben Typus auf der ganzen Welt, und erst durch Vermitt¬
lung der Morrisschen Drucke wurden die Prinzipien der Renaissance-Typographie
nachgeahmt.
Obwohl also Morris' Schaffen auf dem Gebiet des Druckwesens und der Schrift¬
kunst auf die zeitgenössische und unmittelbar folgende Buchproduktion einen sicher¬
lich positiven Einfluß hatte, machte es sich im Laufe der Zeit im wesentlichen doch
durch einen Anachronismus bemerkbar, der möglicherweise nicht weniger Schaden
als Nutzen brachte. Seine Schriften und die gesamte graphische Buchausstattung waren
absichthche Archaismen, die zu einer Zeit des umstürzenden technischen Fortschritts
künstlerisch und gesellschaftlich notwendig reaktionären Charakter hatten. Erinnern
wir uns, daß zur selben Zeit, als Morris die Anerkennung der unausweichhchen Me¬
chanisierung des Druckereigewerbes völhg ablehnte und ausnahmslos am Handsatz
und Handdruck auf Handpapier festhielt, die moderne Technik den Druckern in¬
zwischen so leistungsfähige und vollendete Mittel und Geräte bescherte, daß es ebenso
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neorenaissance-antiq.ua und italika
irrsinnig gewesen wäre, freiwillig auf sie zu verzichten, wie zum Beispiel auf die
elektrische Glühbirne, bei deren Licht sich die Verehrer Morris' heute am Archaismus
seiner Drucke ergötzen. Erinnern wir uns, daß bereits 1814 in der Druckerei der Lon¬
don Times erfolgreich Koenigs Zylinder-Dampfdruckmaschine eingeführt, daß 1822
Churchs Patent der ersten Setzmaschine angemeldet wurde, daß 1848 Applegarth die
erste Rotationspresse baute, die William Bullock im Jahre 1865 so verbesserte, daß sie
zur unentbehrlichen Maschine des Zeitungsdrucks wurde. Knapp vor der Zeit von
Morris' Auftreten als Typograph wurde das Druckereiwesen durch den 1875 von Klic
erfundenen Tiefdruck, im Jahre 1886 durch die Linotype-Setzmaschine von Ottmar
Mergenthaler und schheßhch 1887 durch die Monotype-Setzmaschine bereichert, mit
der ihr Erfinder Tolbert Lanston den Handsatz fast völlig ablöste.
Wenn wir also den technischen Standard betrachten, der doch für unsere Zeit -
seit der Wende des 19. Jahrhunderts - so charakteristisch ist, müssen wir uns die
Frage stehen, wie dieser Standard, von dem wir auf dem Gebiet des Druckwesens nur
flüchtig einige Beispiele nannten, mit dem Morrisschen Historismus in der Typogra¬
phie und typographischen Schriftkunst übereinstimmt. Führte uns Morris' Lehre nicht
gerade dadurch auf einen Abweg, daß die Ästhetik der Schriftkunst des 15. Jahr¬
hunderts auf die Matrizen der Setzmaschinen übertragen wurde, in deren Konstruk¬
tion wir dagegen die damit nicht vergleichbaren modernen ästhetischen Werte er¬
blicken? War es nicht gerade der typographische Historismus Wilham Morris' und
seiner Apostel, der eine Erstarrung der Schriftentwicklung verschuldete, ohne daß er
zu wirklich modernen Formen gelangt wäre, die den modernen Lebensformen und
Lebensinhalten entsprochen hätten? Durch positive Antworten auf diese Fragen würde
Morris stärker belastet, als es ihm im Licht der historischen Tatsachen zukommt. Die
Entwicklung wäre wahrscheinlich - wie wir gesehen haben - auch ohne Morris' Zutun
in dieser Richtung fortgeschritten, und wohin sie weiter verlaufen wird, kann vor¬
läufig nicht vorausgesehen werden.
Morris' typographische und schriftkünstlerische Grundsätze stießen nicht nur in
England, sondern auch im übrigen Europa und in Amerika auf das warme Verständnis
seiner begeisterten Vertreter und Nachfolger. Massenhaft wurden private handwerk¬
liche Druckerwerkstätten gegründet, aus denen nicht minder luxuriöse Bücher kamen,
ebenso wie im Morrisschen Falle keineswegs für durchschnitthche Leser mit durch¬
schnittlichen Möghchkeiten bestimmt, sondern für einen kleinen Kreis finanzkräftiger
oder opferwilliger Amateure oder Spekulanten. So entsteht der neue, in der Geschichte
des Buchdrucks bisher eigenthch unbekannte Begriff des bibliophilen Drucks, eine
besondere Kategorie von Drucksachen, die nicht zum Lesen, sondern zur Freude des
Auges bestimmt sind. Es war das Bemühen der alten berühmten Drucker, jedes Buch
gut auszudrucken. Nunmehr wurde besondere Sorgfalt nur den Büchern für solche
Konsumenten gewidmet, die eine solche Sorgfalt auch besonders zu bezahlen ver¬
mochten. Wenn die Bibliophilie eine bestimmte Verbesserung des allgemeinen Ni¬
veaus der Buchproduktion bewirkte, ist sie an und für sich ihrem Wesen nach eine
bedenkliche Institution, da es doch eine selbstverständliche Forderung sein müßte,
daß jedes, auch das billigste und gebräuchlichste Buch - Schul- und Lehrbücher nicht
ausgenommen — schön sein sollte.
Bibliophile exklusive Druckwerkstätten entstanden in verschiedenen Zentren Euro¬
pas und Amerikas in großer Zahl gleich nach der Gründung der Keimscott Press. So
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