DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
Antiqua seiner Schrift sind zwei Hauptmerkmale der Antiqua des Renaissancetypus
enthalten, die geneigten oberen Serifen mit Kehlung zu den Schäften der kleinen
Lettern und die kontrastarme Modellierung. Verwerflich schien aber sicher die schräge
Schattenachse, die daher durch eine konsequente vertikale Schattierung ersetzt wurde.
Ebenso wird bei den Versahen, die sonst der Caslon zeichnerisch recht verwandt sind,
die klassizistisch uniforme Schriftbreite eingehalten. Der Caslon gegenüber hat der
Buchstabe A einen scharfen, nicht beschnittenen Scheitel und der Buchstabe g ist der
gleichen Letter in der Schrift Théophil Beaudoires auffallend verwandt, was bestimmte
Zusammenhänge mit dieser französischen, knapp vorausgegangenen Antiqua des Neo-
renaissancetypus bescheinigt. Phemisters begleitende Itahka ist zwar recht geneigt,
aber weit ausgeglichener als die Italika Casions.
Insgesamt ist diese Schrift also nichts anderes als die mehr oder weniger 'moderni¬
sierte' Antiqua und Italika William Casions, oder - nach ihrer Entstehung - eine
typische Antiqua und Italika im alten Stil, was auch MiUer & Richard recht treffend
mit der Bezeichnung Old Style charakterisierten, die in der englischen Fachtermino¬
logie für aUe Schriften der Gruppe der Antiqua und Itahka des Neorenaissancetypus
übhch wurde. Diese erste Old Style zeichnete sich zwar durch keine bemerkenswerte
Schönheit der Schriftzeichnung aus, dafür aber durch eine ganz außergewöhnhche
Brauchbarkeit im Satz, wie sie bei den zeitgenössischen klassizistischen Schriften nicht
bekannt war. Darum zeigten sich auch sehr bald bei einigen anderen Schriftgießern
weitere Versionen dieses Typus. Im Jahre 1866 brachte die Firma Stephenson Blake
& Co. in Sheffield eine nur wenig abweichende Neorenaissance-Antiqua und -Itahka
unter derselben Bezeichnung Old Style heraus. Im selben Jahre, aber unter dem
Namen Mediaeval, führte die Londoner Firma Reed & Fox in einer ganzen Serie eine
nicht weniger nahe Imitation der Schrift Alexander C. Phemisters ein. Die Old Style
vermochte in England recht schnell im Satz von Büchern aller Art heimisch zu werden,
und man gab ihr nicht nur vor der Antiqua des klassizistischen Typus den Vorzug,
sondern auch vor der Original-Caslon. 1865 taucht sie schließlich im Zeitungssatz
auf, was für einen besonders revolutionären Umsturz in der englischen Typographie
gehalten wurde. Es gelang auch der Beweis, daß die Old Style dort gute Dienste
leisten kann, wo außerordentliche typographische Ansprüche gestellt werden. Als be¬
sonders bedeutende Persönhchkeiten werden in diesem Zusammenhang gewöhnlich
die Drucker und Verleger John Philp, Herbert Home, Andrew Tuer und einige an¬
dere angeführt. Gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts war die Old
Style in England schon so verbreitet, daß die Antiqua und Itahka des klassizistischen
Typus als völlig unterlegen angesehen werden konnten. Für den sprichwörtlichen
enghschen Konservativismus ist es aber charakteristisch, daß die englischen Drucker
sich mit einigen wenigen Versionen der Antiqua und Itahka im alten Stil begnügten,
die hier bereits genannt wurden, und daß nach anderen Schriften dieses Typus lange
keine Nachfrage bestand.
Auf dem amerikanischen Schriftgußmarkt erschien die Antiqua und Italika des
Neorenaissancetypus sehr bald nach der Abreise Alexander C. Phemisters in die
Vereinigten Staaten. Dort bereitete er eine andere Version seiner Schrift vor, die unter
der Bezeichnung Franklin Old Style bereits 1863 von der Firma Dickinson Foundry in
Boston herausgegeben wurde. Der Erfolg der englischen Neorenaissanceschrift spie¬
gelte sich auch im typographischen Schriftschaffen des europäischen Kontinents wider.
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NEORENAISSANCE-ANTIQUA UND ITALIKA
In der Produktion von Schriften dieser Art übernahm die Führung Deutschland, das
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schriftgußbranche erneut zu einer
Großmacht ersten Ranges heranwuchs. Die endlose Reihe deutscher Schriften des
Neorenaissancetypus leitete schon im Jahre 1868 die Englische Mediäval der Hamburger
Firma Genzsch & Heyse ein. Diese Schrift wurde wahrscheinlich aus den englischen
Originalmatrizen der Schrift Old Style der Firma Miller & Richard abgegossen. Von
der Beliebtheit dieser Schrift spricht die Tatsache, daß sie in demselben Schnitt später
auch von anderen deutschen Gießereien geliefert wurde, so von H. Berthold in Berlin,
Gebr. Klingspor in Offenbach a. M. und anderen. Im gleichen, nur etwas breiteren
Schnitt gab die Frankfurter Schriftgießerei D. Stempel AG im Jahre 1875 ihre Me¬
diäval IG heraus, die besonders in der halbfetten Version gleich darauf auch von an¬
deren deutschen Schriftgießereien erzeugt wurde. Im Jahre 1884 kam die Schrift¬
gießerei Genzsch & Heyse mit einer Neorenaissance-Antiqua eigenen Schnittes heraus,
die sie Renaissance-Antiqua nannte, und 1892 mit einer weiteren, etwas hchteren Neo¬
renaissanceschrift, der Elzevir-Antiqua. Die Tendenzen der Neorenaissance übertrugen
sich, wie wir bereits wissen, sehr bald auf die Akzidenztypographie. So entstand schon
in den sechziger bis achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Akzi¬
denzschriften mit Pseudo-Renaissancecharakter, von denen einige bereits im vorange¬
gangenen Kapitel angeführt wurden.
*
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit erneut dem Verlauf dieses Neorenaissance-Um-
schwungs in der enghschen Typographie zuwenden und dabei erwägen, was in dieser
Beziehung in England und andernorts bis zum Ende der achtziger Jahre des 19. Jahr¬
hunderts bereits erreicht wurde, so müssen wir zu dem Schluß gelangen, daß die an¬
geblichen Pionierverdienste des Wirkens jener intellektuellen Reformatoren, an deren
Spitze William Morris (1834-1896) stand, der wiederholt als eigentlicher Initiator der
sogenannten Erneuerung des Schriftschaffens aus dem Verfall der klassizistischen Ty¬
pographie bezeichnet wurde, stark zusammenschrumpfen. Als sich William Morris
nämlich im Jahre 1889 intensiver für Fragen des Buchdrucks zu interessieren begann,
war der Schriftklassizismus in England schon im endgültigen Abstieg begriffen, und
wenn überhaupt dem Schriftschaffen und der Typographie Englands noch irgend ein
Unheil drohte, dann eher von Seiten der dekadenten dekorativen Tendenzen des Nach¬
klassizismus, die gerade Morris zu einem Teil selbst hervorrief und mit denen sich
das 'fin de siècle' ankündigte. Denn einerseits griff Wilham Morris in andere Gebiete,
wie Architektur, Wohnungseinrichtung, Textihen u. a., mit seiner vielseitigen Er¬
neuerungstätigkeit ein und bemühte sich um einen modernen, wenn auch von vielen
alten Vorlagen inspirierten Ausdruck, der sich im Gegensatz zu dem in der englischen
materiellen Kultur seit der Zeit des Auftretens und der Popularität Walter Scotts
überwiegenden viktorianischen Historismus befand, andererseits erblickte Morris auf
dem Gebiet der Typographie den Ausweg aus dem ausklagenden Klassizismus der
kurz vorangegangenen Stilepoche in einem analogen Historismus. Dieser Widerspruch
in Morris' Stellungnahme war das Ergebnis seiner negativen Einstellung zur techni¬
schen Zivilisation seiner Zeit, in der seine Vorgänger auf dem Gebiet des Druckwesens
- Whittingham, Pickering, Perrin, Phemister und Tuer - nichts so grundsätzhch
Schlechtes erblickten und im Gegenteil voll und ganz die Vorteile nutzten, die ihnen
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