DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
ohne daß dabei die Abhängigkeit so weit ginge, eine solche Schrift zu einer bloßen
Kopie oder Replik zu stempeln. Antiqua- und Italikaschriften dieser Art tauchten
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer ständig wachsenden Zahl verschiedenster,
von allen Schriftgießereien der Welt herausgegebener Varianten auf, die man zu einer
besonderen Gruppe unter der Gesamtbezeichnung ANTIQUA UND ITALIKA IM
ALTEN STIL zusammenfassen kann. Die Schriften dieser Gruppe können jedoch
zeichnerisch von verschiedenen Epochen der Entwicklung der Antiqua und Italika
und hinsichtlich der Versalien sogar von den ältesten Formen der römischen Monu¬
mentalschrift inspiriert sein.
Bis auf diese Vorlagen griff der Lyoner Drucker Louis Perrin zurück, als ihm die
Aufgabe zufiel, das Werk des Alphonse de Boissieu über die alten römischen Inschriften
in Lyon, Inscriptions antiques de Lyon, zu drucken, das im Jahre 1846 erschien (Tafel
LVI). Louis Perrin besorgte zum Satz dieses Buches ein Ensemble von Versalien, die
aus eben diesen antiken Inschriften seines von den Römern gegründeten Domizils
(Lugdunum) abgeleitet waren, jenen Inschriften, deren scriptura quadrata sich durch
sämtliche charakteristischen Elemente und Prinzipien der Konstruktion auszeichnete,
wie wir sie in den entsprechenden Kapiteln kennengelernt haben. Darum hatten auch
Perrins Lyoner Versalien eine verschiedene Schriftbreite, die Buchstaben E, F und S
waren enger als die runden О und Q,u. ä. Das wirkte allerdings in dieser Zeit der
uniformen Breite der Schriften des klassizistischen Typus an sich schon völlig unge¬
wohnt. Aber Perrin ging noch weiter und besorgte sich später zu diesen Versalien -
nach P. Thibaudeau aus dem Fundus des Lyoner Druckers Rey - auch ein kleines
Alphabet, das wahrscheinlich von der französischen Renaissance-Antiqua inspiriert
war, wenn es auch ein wenig an die Caslon erinnerte, sowie eine aus der gleichen
Quelle abgeleitete, wenn auch vielleicht nach Grandjean und Fournier korrigierte
Italika. So entstand die erste Neorenaissance-Druckschrift, die eine lange Reihe analog
konzipierter Stilformen einleitete; wir werden sie im weiteren Text summarisch als
ANTIQUA UND ITALIKA DES NEORENAISSANCETYPUS bezeichnen. Louis
Perrin nannte sein neues, auf diese Weise aus verschiedenen Quellen entstandenes,
merkwürdigerweise aber einheitliches Ensemble caractères Augusteaux. Diese Schrift
führte zwar zu keiner gewichtigen Unterbrechung in der absoluten, bis heute in der
geläufigen französischen Typographie andauernden Vorherrschaft der Didotschen
Antiqua des klassizistischen Typus, rief aber im französischen bibliophilen Druck ein
bestimmtes Echo und auch Nachfolger auf den Plan. Bereits im Jahre 1858 folgte
Perrin der französische Schriftgießer Théophile Beaudoire, der die Versalien seines
Vorgängers fast ohne Veränderungen übernahm, sich aber beim kleinen Alphabet
sehr eng und deutlich an die Zeichnung der Garamondschen Antiqua anlehnte (Abb.
237). Ein zweifelhaftes Verdienst dieses Schriftgießers besteht darin, daß er seiner
Antiqua im alten Stil den konfusen Namen caractères elzévirs gab, mit dem seit dieser
Zeit in der französischen Typographie und Fachliteratur alle Schriften von Renais¬
sanceschnitt - die ursprünglichen wie die abgeleiteten - gekennzeichnet werden. Die
französischen Neorenaissance-Schriften drangen - wie schon gesagt - nicht in den
alltäglichen Buchdruck ein, der unerschütterlich klassizistisch blieb, und darum sind
weitere Varianten dieses Schnittes in Frankreich verhältnismäßig selten.
Perrins Lyoner Versahen kamen aber auch nach England, wo sie Charles Whitting¬
ham einführte. Wieder war es dieser Drucker, der in England, vielleicht unter dem
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ANTIQ.UA UND ITALIKA IM ALTEN STIL
Einfluß Louis Perrins, ein weiteres Experiment in der Richtung unternahm, die er
selbst angab. Nicht lange vor 1854 entschloß sich Whittingham, für Chiswick Press
zur Caslon noch eine andere Schrift im Renaissanceschnitt anzuschaffen. Da bei den
Schriftgießern anscheinend nichts zur Hand war, was ihm paßte, besorgte sich Whit¬
tingham eine neue Antiqua im alten Stil, die William Howard, ein ehemaliger See¬
mann und in den Jahren 1842-1859 Besitzer einer kleinen Schriftgießerei in London,
für ihn anfertigte. Die Howardsche Antiqua, Basle Roman oder Baseler Antiqua genannt,
wurde ohne Italika und in dem einzigen Schriftgrad von 10-11 Punkt produziert und
ist zeichnerisch von einer vorgaramondschen Antiqua des venezianischen Typus ab¬
geleitet, mit der in Basel und Lyon etwa bis zum Jahre 1550 gedruckt wurde (Abb.
238). Es handelt sich um eine für ihre Zeit sehr schwere Schrift mit einem schrägen
Querstrich des Buchstabens e, einer diagonalen Schattenachse und sehr ausgeprägter
Modellierung, so daß zum Beispiel das 0 einen fast kantigen Eindruck macht. Diese
Verwandtschaft mit den Antiquaschriften des 15. Jahrhunderts wird außerdem durch
das Vorkommen des langen s vorgetäuscht, ebenso wie durch einen kurzen schrägen
Strich anstelle des ¿-Punktes. An eine frühe Vorlage erinnert die Basle Roman weniger
durch die Zeichnung der Versalien, die dem späten aldinschen Typus nähersteht als
dem venezianischen, das Z mit den starken Horizontalen und der schwachen Diago¬
nale ausgenommen. Darum kann man diese erstmalig beim Satz der religiösen Verse
William Calwerts The Wife's Manual aus dem Jahre 1854 angewandte Schrift nicht
als Replik, sondern als Antiqua des Neorenaissancetypus bezeichnen. Sie war für ihre
Zeit exotisch, um das Interesse der zeitgenössischen Drucker zu erwecken. Es wurden
mit ihr nur einige wenige katholische Bücher gedruckt, und sie wäre in völlige Ver¬
gessenheit geraten, wenn sie nicht um dreißig Jahre später die Aufmerksamkeit Wil¬
liam Morris' erregt hätte; ihn fesselte gerade dieser altertümliche Charakter, der in
den Augen der Drucker weniger exklusiver Literatur ein Mangel war.
Einen weitaus schwereren Schlag gegen die klassizistische Typographie als alle bisher
angeführten Schriften des alten Schnittes im 19. Jahrhundert stellte eine Schrift dar,
die i860 von der Edinburgher Firma Miller & Richard auf den Markt gebracht wurde.
Um das Mißtrauen der Drucker zu zerstreuen, gaben die Schriftgießer in ihrem
Musterbuch bekannt, daß sie sich, der Nachfrage nach Schriften alten Schnittes ent¬
gegenkommend, bemühten, verwerfliche Besonderheiten zu vermeiden und dabei
die charakteristischen Merkmale des 'Mediävalschnittes' beizubehalten. Sehen wir
uns diese Erklärung, vor allem die Bezeichnung 'Mediäval' näher an, die auf diese
Weise in die Fachterminologie eingeht, um sich darin — wenigstens in Deutschland und
im übrigen Mitteleuropa — bis heute zu halten. Den englischen Schriftgießern dieser
Zeit schienen die Schriften des Renaissancetypus im Vergleich zu den klassizistischen
stilmäßig und zeitlich so abgelegen und dem Mittelalter nahe zu sein, daß sie sich mit
keiner näheren Untersuchung belasteten und sie ruhig als mittelalterlich ausgaben
(Johnson). Es ist aber möghch, daß hierbei auch der abseitige Gedanke eine bestimmte
Rolle spielte, etwas aus dem modischen Mediävalismus in der Literatur zu über¬
nehmen. Wie dem auch sei, ich sehe keinen vernünftigen Grund dafür, daß auch wir
heute noch auf diesem unwillkürlichen oder absichtlichen Irrtum beharren. Hinsicht¬
lich der 'verwerflichen Besonderheiten' der Schriften alten Schnittes gewährte die beste
Belehrung die Schrift selbst, die für diese Gießerei deren Stempelschneider Alexander
C. Phemister in einem Ensemble von acht Schriftgraden schnitt (Abb. 239). In der
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