KAPITEL IL DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
BEURTEILT MAN die reine Antiqua des klassizistischen Typus nach ihrer Wirkung
in den prachtvollen und luxuriösen Drucken Didots und Bodonis aus der Zeit um das
Jahr 1800, so zeigt sie außergewöhnliche graphische und Stilqualitäten, die bei vor¬
teilsloser Betrachtung nicht geleugnet werden können. Allerdings trägt hierzu in nicht
geringem Maße auch der sorgfältige Druck auf besonders ausgewähltem und zube¬
reitetem Papier bei, die keineswegs raumsparend typographische Ausstattung, der
große Durchschuß und vor allem die größeren Schriftgrade, in denen es zum cha¬
rakteristischen Kontrast der Haar- und der fetten Striche kommt. Aber auch bei diesen
Meistern zeigten sich im Gegensatz dazu gewichtige Unzulänglichkeiten in der klas¬
sizistischen Buchschrift, sobald es notwendig wurde, sie in den kleineren geläufigen
Schriftgraden zu verwenden. Der Satzspiegel verlor merkwürdigerweise an Farbe, der
Kontrast von Schwarz und Weiß verwandelte sich in ein ausdrucksloses Grau. Noch
deutlicher machten sich dann die negativen Seiten der Antiqua des klassizistischen
Typus in ihren degenerierten Versionen bemerkbar, die für die industrielle Buchproduk¬
tion des 19. Jahrhunderts so charakteristisch werden. Die dürren und bleichen Buch¬
schriften dieser Periode vermochten die Hauptforderung an die Schrift im Buch, näm¬
lich nach Deutlichkeit und Lesbarkeit, nicht mehr zu erfüllen. Dieser Forderung kam
weder die unzureichende Differenzierung der Schriftzeichnung entgegen noch die un¬
vermeidliche Verwendung blendender glatter Papiere, die den Maschinendruck der
sehr engen Zeichnung der üblichen Schrift erleichterten. Es ist interessant, daß diese
Unzulänglichkeiten der Antiqua des klassizistischen Typus lange nicht beobachtet
und - wo dies doch der Fall war - passiv zur Kenntnis genommen wurden, ohne daß
man an ihre Beseitigung gedacht hätte. Dessenungeachtet kam es während des 19.
Jahrhunderts viel früher, als gewöhnlich angenommen wird, zu den ersten Versuchen
einer Reform des Buchsatzes.
Der Anfang vom Ende des Ruhmes, den die Antiqua des klassizistischen Typus er¬
langt hatte, wird gewöhnlich so dargelegt, daß in den neunziger Jahren des 19. Jahr¬
hunderts auf Initiative des enghschen Dichters und vielseitigen Künstlers William
Morris eine Bewegung zur Erneuerung der Buchschrift und Typographie entstand ; und
diese Bewegung stellt angeblich eine allgemeine Rückkehr zur unterbrochenen Re¬
naissancetradition der Schriftkunst und Buchkultur dar. Obwohl die Tätigkeit William
Morris' und seiner Anhänger in vieler Beziehung zweifellos einen unschätzbaren Bei¬
trag leistete, den wir später entsprechend würdigen wollen, wäre es sicher auch ohne
ihr Zutun zu dieser Wendung in der Entwicklung der Druckschrift zur Neorenaissance
gekommen. Dieser Prozeß war gar nicht so plötzlich und begann sich eigentlich schon
in der Zeit der völligen Vorherrschaft der klassizistischen Antiqua in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen. Wenn es England war, wo die Prinzipien der
klassizistischen Schriftkunst bis ins Extrem getrieben wurden, so war es auch wieder
die enghsche Typographie, die die ersten Anzeichen einer Tendenz zur Rückkehr
aufwies, zunächst natürlich zu einer alten heimischen und so bewährten Schrift, wie
es die Antiqua und Italika William Casions, eine enghsche Spätrenaissanceschrift, war.
Bis zum Jahre 1840 gehörten alle Schriften der englischen Buchproduktion ohne
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DIE NEORENAISSANCE-ERNEUERUNGSBEWEGUNG
Ausnahme dem klassizistischen Typus an. Aber schon seit diesem Jahre tauchen zag¬
haft Caslonsche Schriften wieder in den Titelblättern der Bücher auf, die der unter¬
nehmungslustige Verleger Wilham Pickering herausgab und die Charles Whittingham
in seiner Druckerei Chiswick Press in London für ihn druckte. Es dauerte nicht lange,
und Whittingham versuchte den Satz ganzer Bücher in Caslon. Bereits 1844 druckte
er das in der englischen Fachliteratur häufig zitierte Werk Lady Willoughby's Diary
in Caslon, hatte zu dieser Zeit aber gleichzeitig einige weitere Bücher für William
Pickering zum Druck bereit, die sämtlich in Caslon gesetzt waren. Obwohl das heute
kaum glaublich ist, stand Whittinghams Typographie zu ihrer Zeit im Geruch kühner
Exzentrizität, und deshalb blieb Whittingham wohl auch eine gewisse Zeit ohne Nach¬
folger. Außer Pickering ließ sich nur Joseph Masters, der Herausgeber katholischer
Literatur, im Jahre 1847 bei Whittingham ein Büchlein in Caslon setzen, mit der er
dann in seiner eigenen Druckerei vom Jahre 1848 an eine Reihe von Büchern für die
katholischen Leser in England druckte. So geschah es, daß die Caslonsche Antiqua
oder Old Elzevir type, wie sie von Joseph Masters genannt wurde, seit i860 eine be¬
sonders typische Schrift der englischen katholischen Literatur darstellte, denn auch
andere Herausgeber und Drucker, wie J. Unwin und John Philp, hielten allein diese
Schrift für geeignet zum Setzen katholischer religiöser Bücher. In anderen Publika¬
tionen taucht die Caslon in den Jahren 1852-1860 nur sporadisch auf. Außerhalb
Englands vermag zu dieser Zeit die Caslon einzig in den Vereinigten Staaten erneut,
dafür aber um so fester Fuß zu fassen.
In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam es neben der ursprünglichen
Caslonschen Antiqua zu Versuchen einer Wiedererweckung auch anderer altengli¬
scher Schriften. Der Umstand, daß Charles Whittingham mit seinem Unterfangen
keinen Mißerfolg erlitt, veranlaßte einige Schriftgießer zur Revision des eigenen Schrif¬
tenfundus. So finden sich z. B. im Musterbuch der Figginsschen Schriftgießerei aus
der Zeit um 1850 erneut Proben von Antiquaschriften des Übergangstypus von Vin¬
cent Figgins, datiert 1795. Etwas später, im Jahre 1857, erschien die Original-Caslon
unter dem Namen Caslon Old Face erstmals wieder im Musterbuch der Caslonschen
Schriftgießerei, aus der sie stammte. Die durchschnittlichen Herausgeber der üblichen
Literatur glaubten aber noch immer nicht an diese 'Neuheiten' und hielten halsstar¬
rig an den dekadenten Schriften des klassizistischen Typus fest, die ihnen immer noch
genügend leserlich erschienen. Zwar hatten sie recht, soweit es sich um Bücher han¬
delte, die mehr oder weniger nicht zum Lesen bestimmt waren, aber sie blieben der¬
selben Meinung, wenn es sich um Bücher handelte, die wirklich gelesen werden sollten
(Johnson). Auch die englischen Schriftschneider ließen sich in ihrer Mehrzahl nicht
durch die Anzeichen neuer Tendenzen in der Typographie stören und ließen zu, daß
ein weiterer bedeutungsvoller Schritt in der Richtung auf die Neorenaissance-Erneue-
rung der Druckschrift außerhalb Englands unternommen wurde.
Inzwischen konnte sich nämlich Frankreich noch vor der Mitte des 19. Jahrhun¬
derts durch einen Schrifttypus hervortun, wie wir ihm in der Geschichte der Schrift
bisher noch nicht begegnet sind. Es handelt sich dabei nicht, wie im englischen Falle
der Antiqua William Casions, um die bloße Wiedereinführung einer Schrift vorklas¬
sizistischen Schnittes, die noch in den Originalstempeln oder Matrizen zugänglich
war, sondern um eine neue, von älteren Mustern nur inspirierte Schrift. Es ist dies
also das erste Beispiel einer mit Absicht aus historischen Vorlagen abgeleiteten Schrift,
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