DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Schrift Wodan der Frankfurter Schriftgießerei D. Stempel AG aus dem Jahre 1906
(Abb. 234), die sonst ein sehr anschauliches Beispiel für die typographische Schrift¬
kunst des Jugendstils ist. Diese mit ihren fetten Horizontalen am Kopf und Fuß des
Schriftbildes an die Itahenne erinnernde Grotesk-Antiqua, aber auch alle anderen
derartigen Schriften müßten schon lange aus den Druckereien entfernt und einem
typographischen Museum zugeführt sein, da sie schon seit langem jeden Wert außer
dem eines historisch interessanten Zeitdokuments verloren haben.
Als letzte muß man unter den Grundformen der Akzidenzschriften nur noch in
Kürze die AKZIDENZ-SCHREIBDRUCKSCHRIFT erwähnen, denn als Akzi¬
denzschriften kann man natürhch alle Druckskripten auffassen, die wir bisher kennen¬
gelernt haben. Den Druckern vom Beginn des 19. Jahrhunderts standen schon seit
langem verschiedene Druckimitationen zeitgenössischer Handschriftenschriften zur
Verfügung, aus der letzten Zeit dann die Anglaise, eine Druckversion der üblichen
klassizistischen Kursiv. Sie wirkte in ihrer reinen Form auf Drucksachen schon an sich
recht dekorativ, weshalb sie auch das ganze 19. Jahrhundert hindurch im wesentlichen
keine formalen Veränderungen aufweist und schließlich in ähnlicher Form auch in
unsere Zeit überging, als englische Schreibschrift immer noch vertreten ist und in mo¬
dernen Druckereien verwendet wird. Nichtsdestoweniger gab es auch im Laufe des
19. Jahrhunderts einige wenige Versuche einer ornamentalen Behandlung dieser Skript,
die aber im ganzen ohne nennenswerten Erfolg blieben. Noch schlimmer wurde es am
Ende des 19. Jahrhunderts, als die viel zahlreicheren Akzidenz-Schreibschriften auf
den Schriftgußmarkt kamen, die aber ebenso vielfältig und zeitgemäß deformiert
waren wie andere Schriften dieser Zeit. Es gab darunter auch verschiedene halbkursive
Jugendstilschriften, die etwa im gleichen Geist konzipiert waren, wie das hier bereits
angeführte Jugendstilalphabet von Alfons Mucha.
Ausgesprochen ornamentalen Schreibdruckschriften des 19. Jahrhunderts begegnen
wir eher außerhalb des eigentlichen Buchdrucks, in den in der neuen Drucktechnik
der Lithographie hergestellten Publikationen. Ähnlich wie im älteren Kupferstich
kann man auch auf den Lithographiestein jede beliebige Form aufzeichnen, die viel¬
leicht in Hochdrucktechnik schwierig, wenn überhaupt reproduzierbar wäre. Der so
orientierten lithographischen Schriftkunst, für die besonders die Titelblätter und Um¬
schläge von Musikalien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielhaft sind,
wiesen auch die zeitgenössischen Berufskalligraphen den Weg. In ihren lithographi¬
schen Sammelwerken gibt es zwar nur noch vereinzelt Vorlagen für den Schreibunter¬
richt, da ihr Schriftrepertoire inzwischen auf eine Form der Lateinschreibschrift und
zwei oder drei Kursivschriften des gotischen Typus zusammengeschrumpft war, dafür
enthalten sie aber gewöhnlich eine Unzahl verschiedener Varianten von Akzidenz¬
druckschriften, die sehr bald in das Gebiet der Inschriften-Schriftkunst vordrangen.
Deshalb können wir auch hier weitere ornamentale Varianten der fetten Antiqua und
Italika, Egyptienne, Italienne, Toscanienne und Grotesk finden, denen wir in der
Typographie nicht begegneten. Manchmal sind diese Schriften dekoriert oder mit
wirklich bewundernswerter Phantasie ornamentiert, wie zum Beispiel einige Alpha¬
bete in dem Sammelwerk Spécimen des écritures modernes, das Jean Midolle 1834
in Straßburg herausgab, oder in der ähnlichen, aber in Kupferstich gedruckten Samm¬
lung, die von D. Biaggio und Constantino Santerini 1844 in Bologna herausgegeben
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236. Gemischte Plakatschrift des Jugendstils. A. Mucha, um igoo.
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