DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
Entwicklung der Lateinschrift bisher nicht angewandter Methoden der Schriftkunst,
d. h. der Geometrie, wie auch neuartige Instrumente der Schriftkünstler, nämhch das
Lineal und der Zirkel, die Impulse gaben.
Die allgemeine, für die Renaissance so bezeichnende Vorhebe für die Mathematik
wurde am Ende des 15. und im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ge¬
radezu zu einer Besessenheit, und davon blieben nicht einmal die Renaissancekünstler
verschont, die in der Vielseitigkeit ihrer Interessen die mathematischen und geometri¬
schen Gesetze der Ästhetik der antiken Baukunst, Bildhauerei, Bildkomposition und
der Proportionen des menschlichen Körpers zu entdecken versuchten. Um so mehr
und mit nicht geringerer Kraft übertrug sich diese Vorhebe auf das Schriftschaffen
der Renaissance, und dieselben Methoden, die man bei der Messung der altertümli¬
chen Architektur, bei der Analyse ihrer Elemente und ihrer Rekonstruktion mit Lineal
und Zirkel anwandte, wurden auch auf die graphische Komposition der Zeichen des
römischen monumentalen Alphabets übertragen, im Glauben, daß man auf diesem
Wege zu den mathematischen Gesetzmäßigkeiten der Schönheit klassischer römischer
Inschriften gelangen könne. Wenn die ältesten erhaltenen Dokumente eines solchen
Beginnens auch aus recht später Zeit - der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts -
stammen, ist es nicht ausgeschlossen, daß die ersten derartigen Versuche noch früher
unternommen wurden, was vorläufig allerdings nicht nachgewiesen werden konnte.
Fest steht, daß solche Sorgen und Probleme den altrömischen Steinmetzen bzw. Ordi-
natoren bestimmt unbekannt waren, und daß diese sich, wie hier an entsprechender
Stelle bereits gesagt wurde, mehr vom Gefühl für die harmonischen Proportionen des
Schriftbildes leiten ließen als von irgendwelchen geometrischen Theoremen über die
Konstruktion idealer Inschriftenschriften. Wir haben auch gesehen, daß die scriptura
quadrata, das hauptsächhche Studienobjekt der Künstler, Gelehrten und berufsmäßi¬
gen Schreiber der Renaissance, vielleicht ursprünglich nicht so viel mit dem Begriff
des Quadrates gemeinsam hatte, wie man später aus ihrem Namen ableitete, aber in
der Renaissance wurde die Auslegung ihres Namens im Sinne der Geometrie wörtlich
genommen und angestrengt die Beziehung der einzelnen Buchstaben des klassischen
Inschriftenalphabets zum quadratischen Schema gesucht. Und es blieb dabei nicht
bei den Gesamtproportionen der Schriftzeichen, sondern mit Hilfe der Diagonalen,
der Teilung längs vertikaler und horizontaler Achsen, mit Hilfe von Umkreisen und
Inkreisen und oft sehr komplizierten Kombinationen dieser Verfahren suchte man
das Verhältnis der schwachen und starken geraden Züge, die Art der Krümmung
der bogenförmigen Züge, und ein System kleiner Kreislinien sollte zur Aufstellung
vollendeter Formen der Serifen und hauptsächlich der Kurven ihrer Kehlung ver¬
helfen. Die Künstler und Mathematiker der Renaissance wollten also mit Zirkel und
Lineal in der Hand ergründen, was sich die altrömischen Schrift-Steinmetzen mit
dem bloßen von der Tradition mehrerer Jahrhunderte geläuterten künstlerischen
Instinkt erschlossen hatten.
Die ersten, die sich mit diesen Problemen beschäftigten und auch Versuche ihrer
Lösung pubhzierten, waren natürlich die Italiener, in deren Land, der eigenthchen
Geburtsstätte der Renaissancebewegung, auch am meisten Studienmaterial zur Ver¬
fügung stand. Und als erster unter diesen Italienern galt bis vor kurzem Luca Pacioli,
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7. Inschriften-Majuskel der Renaissance. Sebastiano Serlio, erste Hälfte
des 16. Jahrhunderts.