GROTESK
ganz Europa beliebt und wurde in zahllosen flächigen und plastischen Varianten er¬
zeugt. Unter diesen Schriften kann man neben der bereits angeführten lichten Schrift
Figgins' vielleicht noch die umgekehrt traktierte spätere französische Variante er¬
wähnen (L, M), andererseits muß man die dornspitzige Perspektiv-Grotesk aus dem
Medauschen Musterbuch der Periode vor der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders
betonen (O, P). Diese Schrift besaß Medau auch in einer Variante, die mit einem
vertikal geteilten Hintergrund unterlegt war; im Jahre 1845 befand sie sich auch im
Besitz von Vincent Figgins und einiger französischer und deutscher Schriftgießer. In
Medaus Musterbuch gibt es eine weitere derartige spitzige Perspektiv-Grotesk, die
diesmal aus der Untersicht konzipiert ist (Abb. 230). Mit der Vollkommenheit des
Schnittes und der Schattenmodellierung ist diese Schrift großer Ausmaße nicht nur
eine der besten ihrer Art, sondern eine der besten unter allen ornamentalen Akzidenz¬
schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt.
In der ganzen europäischen und amerikanischen Typographie war um die Mitte
des 19. Jahrhunderts die rustikale Grotesk besonders behebt, die in ihrer Ausführung
stark an manche Schriften aus den Schriftmusterbüchern der Renaissance des 16.
Jahrhunderts erinnert. Wir begegnen hier wiederum einer Komposition des Schrift¬
bildes aus grob beschnittenen Zweigen, die gleichsam in Holzschnittechnik modelliert
sind. Die älteste Schrift dieser Art tauchte bei Vincent Figgins im Jahre 1845 auf,
zunächst aber ohne Schlagschatten. Bedeutend effektvoller ist die wohl nicht viel
jüngere französische Schrift aus unserer Probe (Abb. 225 E), deren Dreidimensiona¬
lität durch Betonung des Schlagschattens hinter dem Schriftbild besonders deutlich
wird. Eine sehr ähnhche, aber einfachere Variante dieser Grotesk hatten auch einige
amerikanische Schriftgießer (Abb. 225 K).
Ebenso wie bei anderen Akzidenz- und Inschriftenschriften mußte sich auch die
Grotesk an der Wende des 19. Jahrhunderts durchdringende Eingriffe und Reformen
der Grundform gefallen lassen. Deshalb wird die Jugendstil-Grotesk in der Typographie
größtenteils durch nichtkonstruktive, verschieden verzerrte Varianten repräsentiert.
Nur ausnahmsweise finden wir etwas ansprechendere Druckschriften dieser kurzen
Stilepoche. Ein wenig anders verhielt es sich bei den lithographischen Plakaten des
Jugendstils, wo die Schriftdeformierung der Malerhandschrift der figuralen und orna¬
mentalen Gesamtkomposition entsprach, so daß die Jugendstillinie die Plakatzeich¬
nung und -schrift zu einer beneidenswerten stilistischen Einheit verbindet, die mit
Recht unsere Anerkennung verdient. In den Plakaten aus der Zeit um 1900, wie sie
zum Beispiel von Toulouse-Lautrec, Steinlen, Mucha, Preisler und vielen anderen
geschaffen wurden, begegnen wir verschiedenen Abarten willkürlich formal gemischter
Schriften, die damit auch nicht zu klassifizieren sind, häufiger als der Grotesk. Ein
besonders typisches Beispiel einer solchen Jugendstilschrift ist sodann zweifellos das
aus der Schriftkunst Alfons Muchas zusammengesetzte Alphabet (Abb. 236). Be¬
wundernswert ist hier die Mischung von Elementen der Antiqua-, Grotesk-, Italienne-
und Kursiv-Schriften.
Formal gemischte Schriften waren aber an der Wende des 19. und zu Beginn des
20. Jahrhunderts auch in der Akzidenztypographie eine sehr häufige Erscheinung. Sie
entstanden gewöhnlich durch Kreuzung der Grotesk mit der Antiqua, und deshalb
überwogen darin gewöhnlich auch die typischen Merkmale entweder des einen oder
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