DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
links geworfenen Schatten, einer sehr späten Schrift wahrscheinhch deutscher Her¬
kunft, die wir auch heute noch in kleineren alten Druckereien antreffen.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen zwei ansprechende Varianten der
engen Perspektiv-Grotesk vor, die beide ebenfalls Medau in Leitmeritz erzeugte (Abb.
228). Die erste dieser liegenden Schriften, voll gefärbt mit lichter Modellierung, besaß
in England Thorowgood im Jahre 1841, die zweite, eine lichte Grotesk mit dunklem
Schatten, Figgins im Jahre 1843. Um vieles später, erst um 1865, kam Caslon und
gleichzeitig A. Wood mit einer Perspektiv-Grotesk heraus, die zwar ebenfalls in Auf¬
sicht, aber in normaler senkrechter Stellung konzipiert war (Abb. 225 V).
Unter den plastischen Groteskschriften verdient eine hohle Grotesk besondere Auf¬
merksamkeit, die hier durch die Buchstaben С und G aus zwei Schriften französischer
Herkunft vertreten ist (Abb. 225). Die Dreidimensionahtät wird durch den innerhalb
und außerhalb des Schriftbildes geworfenen Schatten ausgedrückt, aber die gleiche
Wirkung konnte man auch ohne die Verwendung eines Schlagschattens erzielen, durch
Modelherung mit Hilfe des eigenen Schattens. Dies ist bei einer Grotesk der englischen
Schriftgießerei Stephenson Blake aus dem Jahre 1838 der Fall (Abb. 225 B), oder bei
der hchteren Variante einer Schrift derselben Art, die erst i860 der englische Schrift¬
gießer Besley herausbrachte (Abb. 225 N). Alle diese Schriften unserer Probe, be¬
sonders die hohlen, kann man als wirklich dekorative Groteskschriften bezeichnen,
wenn auch nicht als dekorierte. Dekorierte Groteskschriften kamen übrigens sehr selten
vor. Von den besseren Beispielen können wir hier eigentlich nur zwei Varianten der
runden Grotesk anführen, deren eine um 1844 von der Caslonschen Schriftgießerei
herausgegeben wurde; beide tauchten aber fast gleichzeitig auch bei deutschen und
amerikanischen Schriftgießereien auf (Abb. 225 M, S). In der ornamentalen Form ist
diese runde Grotesk viel annehmbarer als in ihrer Grundform. Man muß ihr auch,
wie aus dem folgenden ganzen Alphabet ihrer amerikanischen Variante hervorgeht
(Abb. 227), einen nicht alltäglichen graphischen Reiz bescheinigen. Doch nicht alle
Buchstaben des Alphabets dieser für ihre Zeit so charakteristischen Schrift verdienen
gleiches Lob, was hauptsächlich für die Form des J und den Q-Schweif gilt. Besonders
bemerkenswert sind aber diese vereinzelten dekorierten Groteskschriften auch deshalb,
weil sie nicht weniger vereinzelte Beispiele eines barock konzipierten Dekors in einer
Schrift dieses Typus darstellen. Es gibt viel mehr Groteskschriften, in deren Orna¬
mentierung einige Elemente der gotischen Schriftkunst verwendet wurden.
Die Gotisierung des Schriftbildes der ornamentalen Varianten der Grotesk konnte
sich allerdings nur durch Anwendung der spitzen Schaftenden der Hochtextur äußern,
und ähnlich wie in der historischen Vorlage hatten diese Textur-'Füßchen' ver¬
schiedene Form; die älteste derartige dornspitzige Grotesk - eine plastische, lichte, dunkel
schattierte Schrift von Vincent Figgins aus dem Jahre 1847 (Abb. 229 H, I) - war
mit auf die Spitze gestellten Quadraten etwa der gleichen Form versehen, wie sie die
gotische Quadrat-Textur besaß. In jüngeren flächigen spitzen Groteskschriften sind
aber die Scheitel dieser Quadrate stark zugespitzt, wie etwa in französischen Schriften
aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (A, B), oder schließhch zu sehr schmalen
und scharfen Dornen ausgezogen, wie in der Schrift der englischen Firma Miller &
Richard etwa aus dem Jahre 1857 (C). Dieses Prinzip wurde in einer amerikanischen
Grotesk mit solcher Konsequenz übertrieben, daß man hier von einer wahrhch dor¬
nigen Grotesk sprechen kann (F, G). Die dornspitzige Grotesk war ,zu ihrer Zeit in
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