DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Graphisch war die fette Grotesk um vieles wirkungsvoller und wurde deshalb be¬
sonders für Plakate in größeren Schriftgraden sehr häufig benutzt. Die Firma Figgins
brachte sie erstmalig 1832 auf den Schriftgußmarkt, und zwar nur in einem Ensemble
von Versalien. Auf dem europäischen Festland besaß der Schriftgießer Franke in Dan¬
zig schon etwa seit 1840 eine solche Schrift einschheßhch des kleinen Alphabets, und
nach ihm hatten sie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast alle deutschen Schrift¬
gießereien, die die breite fette Grotesk unter der Bezeichnung fette Steinschrift auch ins
Ausland lieferten (Abb. 219). Diese immer sehr gut wirkende Schrift, an der man
wohl nur das stark überlastete Bild der Versahen M, N, W und die wirklich groteske
Form des Q¿ aussetzen könnte, kam vor kurzer Zeit erneut in Mode und wurde ent¬
weder in der ursprünglichen Form oder in einem revidierten Schnitt herausgegeben,
wie etwa die Kompakte Grotesk der Schweizer Firma Haassche Schriftgießerei. Eine
solche 'steinerne' Schrift wurde im 19. Jahrhundert in noch fetteren Varianten her¬
gestellt, die entweder schmäler oder sehr breit waren. Für die breiten Grotesken, die
erstmalig im Jahre 1841 von amerikanischen Schriftgießern eingeführt wurden, fand
sich allerdings keine so breite Verwendung wie für die schmale fette Grotesk. Darum war
diese Form, die erstmalig im Jahre 1834 in der Caslonschen Schriftgießerei auftauchte,
das ganze 19. Jahrhundert hindurch um vieles häufiger und blieb bis heute in ihrem
ursprünghchen alten Schnitt erhalten. Darin kamen allerdings sehr zahlreiche weitere
Modifikationen in verschiedenem Maß der Fette und Verengung des Schriftbildes
vor, etwa in den Grenzen, die in unserer Probe durch die beiden Plakatschriften der
englischen Firma Stephenson Blake gesetzt sind (Abb. 220). Solche große Schriften
wurden auch aus Holz hergestellt, aber als in Metall abgegossene Lettern sind enge
fette Groteskschriften ebenso heterogen. Ihre geläufigste Form war jedoch eine sowohl
in den Proportionen als auch in der Fette ziemlich gemäßigte Schrift, ähnlich etwa
der sehr alten französischen engen Grotesk, die bis in die dreißiger Jahre des 19.
Jahrhunderts datiert wird und auch heute im Originalschnitt in Abgüssen der Pariser
Fonderie Typographique Française zugänghch ist (Abb. 222). In den mitteleuro¬
päischen Druckereien kommt unter den Schriften des 19. Jahrhunderts eine enge fette
deutsche Grotesk am häufigsten vor, die 1896 von der Berhner und Wiener Schrift¬
gießerei Berthold auf den Markt gebracht wurde.
Soweit es sich um gewichtigere Abweichungen von der eigentlichen Schriftzeich¬
nung handelt, kamen unter den Groteskschriften zwei weitere Varianten vor. Deren
erste, die beschnittene Grotesk, führte William Thorowgood unter dem Namen Grecian
im Jahre 1838 ein; der ganze 'griechische' Charakter dieser Grotesk beruhte - ebenso
wie bei ihrer Egyptienne-Analogie - auf einem bloßen Beschneiden aller runden Züge
zu Ecken, aber dieses Prinzip erfaßte mehr die ornamentalen Grotesk-Modifikationen.
In der Grundform war das gerade Gegenteil dieser eckigen Schrift bedeutend be¬
liebter, nämlich die runde Grotesk, ein Beitrag der Caslonschen Schriftgießerei aus dem
Jahre 1838. In solchen Schriften, die dann wohl von allen europäischen und amerika¬
nischen Schriftgießereien in verschieden proportionierten und verschieden fetten Ver¬
sionen und Ensembles des großen und kleinen Alphabetes herausgegeben wurden,
sind dagegen alle Ecken und Winkel abgerundet. Diese wirkliche groteske Würstchen¬
form der Grotesk, die im 19. Jahrhundert sehr beliebt war, muß man heute nur des¬
halb in guter Erinnerung bewahren, weil es sich um eine schon lange ausgestorbene
Art handelt, deren Reste kaum noch in irgendeiner modernen Druckerei zu finden
364
lr
ABCDEFGHIJ
KLMNOPQRS
TUVWXYZab
cdefghijklmno
pqrstuvwxyz
222. Schmale fette Grotesk des ig. Jahrhunderts.
365