DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
ES IST interessant, daß alle Aufmerksamkeit der Dessinateure früher Akzidenzschrif¬
ten hinsichtlich der Grundform vor allem auf die Serifen als die geradezu auf der
Hand hegende Möglichkeit graphischer Variationen gerichtet war. Dadurch, daß man
von den haardünnen Serifen der fetten Antiqua des klassizistischen Typus über die
schweren rechteckigen Serifen der Egyptienne und die hohen Serifenquadern der Ita¬
henne bis zu den gespaltenen 'Serifen' der Toscanienne gelangte, konnte es scheinen,
daß alle Möglichkeiten in dieser Richtung im wesentlichen erschöpft sind. Es blieb
aber doch noch eine Möglichkeit des graphischen Spieles mit den Serifen, nämlich sie
völlig wegzulassen. So schloß sich mit der direkten Entwicklung aus der letzten Form
der Buch-Lateinschrift - wenigstens hinsichtlich der Versalien - der Kreis der gesamten
zweitausendjährigen Entwicklung der Lateinschrift. Man kam schließlich auf die
nackte Form der Schriftkonstruktion zurück, die am Anfang dieser Entwicklung ge¬
standen war, so wie wir sie in den früheren Formen der römischen epigraphischen
Schrift oder noch früher in der griechischen Monumentalschrift kennengelernt haben.
Auch im weiteren Verlauf der Entwicklung der Lateinschrift kam die monumentale
Majuskel ohne Serifen häufig vor. Wir hatten hier schon einige Beispiele solcher
Schriften aus der Periode des frühen Mittelalters und später vor allem aus der frühen
Entwicklungsperiode der Renaissance-Majuskel kennengelernt. Zu Beginn des 19.
Jahrhunderts jedoch zeichnete sich diese neue Gruppe der Akzidenzschriften mit Rück¬
sicht auf die kurz vorausgegangene Entwicklungslinie und auf die Verwandtschaft
mit der Antiqua des klassizistischen Typus zunächst durch einige Merkmale aus, die
für die gesamte Schriftkunst des 19. Jahrhunderts charakteristisch sind; vor allem
wieder durch jene uniforme Schriftbildbreite, die allerdings die übermäßige Be¬
lastung der Lettern mit einer komplizierteren Schriftkonstruktion zur Folge hatte.
Die erste derartige Schrift erscheint im Jahre 1816 mit einer einzigen Serie von Ver¬
sahen im Musterbuch der altehrwürdigen Schriftgießerei William Casions. Obwohl
kurz danach, um 1819, die Firma Blake, Garnet & Co. eine Schrift gleichen Schnittes
herausgab, scheint diese Neuheit doch kein Augenblickserfolg gewesen zu sein, denn
erst 1832 taucht eine solche Schrift erneut auf, und zwar gleichzeitig in den Muster¬
büchern zweier Schriftgießer. Im ersten, von William Thorowgood, dem Nachfolger
Robert Thornes, herausgegebenen wird die Schrift mit dem Namen Grotesque be¬
zeichnet. Vincent Figgins, der Herausgeber des zweiten Musterbuches, benannte seine
Version Sans-serif. Kurz danach - im Jahre 1833 - gab die Firma Blake & Stephenson
in Sheffield eine weitere Version unter der Bezeichnung Sans-surryphs heraus. Die Cas¬
lonsche Schriftgießerei, die 1834 eine weitere Variante einführte, belegte die neue
Schrift in ihrem etwa 1844 herausgegebenen Musterbuch mit der Bezeichnung Doric.
Andere enghsche und danach auch amerikanische Schriftgießer kennzeichneten ihre
späteren Versionen der Schriften ohne Serifen noch absurder mit dem Namen Gothic,
wohl deshalb, weil sie mit ihrer Farbe an die dunklen gotischen Schriften erinnert, die
in England black-letter genannt wurden (Johnson). Unter all diesen Bezeichnungen
ist die einzige, die den Charakter der neuen Schrift tatsächlich ausdrückt, Sans-serif,
d. h. ohne Serifen, und diese wird neuerdings auch in die englische Fachterminologie
eingeführt. Dem entspricht das deutsche Serifenlose oder Endstrichlose, Bezeichnungen,
die heute ebenfalls immer öfter verwendet werden. Im 19. Jahrhundert aber gewann
die Bezeichnung Grotesque größte Verbreitung, die sich als GROTESK in Mittel¬
europa so einbürgerte, daß man sich für sie keinen Ersatz denken konnte, obwohl am
360
ABCDEFGH
IJKLMNOP
ORSTUVW
XYZ 12345
67890 abc
defghijklm
nopqrstuv
wxyz
21g. Breite fette Grotesk des ig. Jahrhunderts.