DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Fuß des Buchstabens eingerollt zu sein, finden wir schon in Medaus Musterbuch aus
der Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts (Abb. 214 A-E). Es scheint also, daß diese
feine lichte Schrift in Mitteleuropa entstand und keineswegs in England, wo sie die
Figginssche Schriftgießerei in diesem Schnitt erst um 1870 nachweist. Wenn diese
Schrift nur entfernt mit der Grundform der Egyptienne verwandt ist, so wurde aus
dieser Form unverhohlen die deutsche Variante abgeleitet, die wahrscheinlich etwas
jünger und weniger häufig, aber sehr getreu in der Imitation des vorgetäuschten Ma¬
terials ist (Abb. 214 L, M). Über eine verhältnismäßig einfache und in Übereinstim¬
mung mit älteren Vorbildern gerollte Toscanienne verfügte um 1856 auch die Cas¬
lonsche Schriftgießerei, und andere Varianten besaßen annähernd gleichzeitig auch
weitere englische Schriftgießer. Einen weniger ausgesprochenen Rollencharakter zeigt
die verwandte Toscanienne der englischen Firma Wood & Steele aus dem Jahre 1853
(F, H, I), die zeichnerisch von der fetten Antiqua abgeleitet wurde. Das ist am ehesten
an dem Buchstaben H unserer Probe zu sehen, bei dem der starke Kontrast der
schwachen und fetten Züge gut zur Geltung kommt. Gar nicht erkennbar ist das beim
I, das mit seiner Form auch den übrigen Rollbandschriften nähersteht.
Alle diese reichen Möglichkeiten einer dekorativen Behandlung, und hauptsächlich
die Spaltung der Toscanienneschriften wurden, noch bevor sie völlig ausgeschöpft
werden konnten, durch eine weitere Möglichkeit bereichert, nämlich die Kombina¬
tion verschiedener Methoden der Beendigung der Schäfte oder anderer Züge. Auf
diesem Weg entstand bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Antiqua-
Halbtoscanienne, wie wir eine gemischte Schrift bezeichnen könnten, deren oberer Teil
eine Antiqua und deren unterer eine Toscanienne ist. Die älteste derartige Halbtosca-
nienne ist wohl jene Schrift, die in Medaus Musterbuch als letzte Neuheit angeführt
wird; in England besaß sie 1843 die Wilsonsche Schriftgießerei (Abb. 215 C, c, D).
Die obere Hälfte stellt im großen und kleinen Alphabet eine sehr plastische schraf¬
fierte fette Antiqua des klassizistischen Typus dar, während die untere Hälfte zu den
rund gespaltenen pseudobarocken Toscanienneschriften gezählt werden muß. In der
amerikanischen Typographie tritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch
eine nichtklassizistische Antiqua-Halbtoscanienne auf, d. h. eine solche mit Serifen-
kehlung in ihrem oberen Antiquateil (Abb. 215 B). In Deutschland tauchte zur selben
Zeit eine Skelett-Halbtoscanienne auf, eine sehr seltsame Schrift mit einem lichten
plastischen oberen Skeletteil und einem flächigen voll gefärbten unteren Toscanien-
neteil (Abb. 215 A). Viel glücklicher war die Egyptienne-Halbtoscanienne, die sich noch
1870 in England in der Figginsschen Schriftgießerei befand, aber schon in Medaus
Musterbuch vertreten ist (Abb. 217). Analog zur Antiqua-Halbtoscanienne ist diese
auch in Frankreich und Deutschland hergestellte Schrift nur mit ihrem Oberteil eine
Egyptienne. Mit ihrer unteren Hälfte ist sie gewissermaßen eine Rollband-Tosca-
nienne. Durch die Kombination der Toscanienne und verschiedener anderer Grund¬
formen der Akzidenzschriften waren aber noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft.
Man griff schließlich zur Kombination verschiedener Formen der Toscanienne selbst,
und so entstand die gemischte Toscanienne. Ein solcher Mischling ist in unserer kleinen
Probe die amerikanische Schrift (Abb. 215 E), in deren Oberteil wir die volle flächige
Toscanienne mit runden Abspaltungen erkennen, während sie im unteren Teil eine
von Pflanzenelementen inspirierte schattierte Toscanienne mit sichelartigen Abspal¬
tungen ist. In der amerikanischen und europäischen Typographie des 19. Jahrhun-
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