6. Inschriften-Majuskel der Renaissance. SlanJ, 1584.
INSCHRIFTENMAJUSKEL DER HOCHRENAISSANCE
auch die Tendenz, den unteren Querbalken des Buchstabens E zu verlängern, der in
den schönen klassischen römischen Inschriften niemals den oberen und mittleren
Balken dieses Buchstabens überragte. Besonders typisch für die ausgereifte Renaissance-
Majuskel sind weiter die aus dem Schriftbild hinausragenden einseitigen Serifen am
Scheitel des M und die sehr lange einseitige Serife des linken Schaftes beim N. Es
ist dem nach diese Majuskel keine bloße Kopie der altrömischen Vorlage, wie man auf
den ersten Blick meinen könnte. Und das ist auch nicht der erste Fall dieser Art.
Auf eine nicht weniger vollendete Schrift mit den gleichen charakteristischen Eigen¬
schaften stoßen wir in italienischen Inschriften schon um die Mitte des 15. Jahrhun¬
derts, wie z. B. bei der Inschrift auf dem Medaillon in der Kathedrale von Lucca, das
zur Erinnerung an Giovanni di Pietro di Arrariza von Matteo Civitali bereits 1457
geschaffen wurde (Taf. Via). Einer ebenso schönen Inschriftenmajuskel der Renais¬
sance begegnen wir aber auch bei vielen anderen gemeißelten Inschriften der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts, und zur Kulminationsphase der italienischen Inschriften¬
kunst der Renaissance wird dann das 16. Jahrhundert, in dem das italienische Beispiel
auch im übrigen Europa Widerhall findet. Die Vollkommenheit des italienischen Vor¬
bildes wurde allerdings selten erreicht, denn die gotische Schriftkunsttradition war,
wie wir gesehen haben, in diesem Jahrhundert im gesamten westlichen Kulturbereich
immer noch sehr lebendig, besonders hinsichtlich der Texte in den Nationalsprachen.
Um so mehr war dies auch in den böhmischen Ländern der Fall, aber trotzdem
wurden hier im 16. Jahrhundert graphisch sehr bemerkenswerte Renaissance-Inschrif¬
ten gemeißelt. So ist zum Beispiel die Schrift der tschechischen Inschrift auf dem
Grabstein Friedrichs und Jans von Simberk aus dem Jahre 1584 in der Kirche des hl.
Gotthard in Slany (Taf. Vila) von hervorragendem graphischem Wert; der beinahe
klassische Rhythmus der Proportionen der breiten und schmalen Buchstaben macht
ebenso wie die schöne und typisch renaissancehafte Zeichnung der meisten Buchstaben
des Alphabets dank den verschiedenen zeichnerischen Varianten ein und desselben
Buchstabens (Abb. 6) den Eindruck großer Buntheit. Das A ist hier ebenso in der
klassischen Form mit scharfem Scheitel wie in jener mit renaissancehaft abgeschnit¬
tenem Scheitel vertreten. Das E hat einen sehr langgezogenen unteren Quer- und
einen sehr kurzen Mittelbalken. Neben der klassischen Form des M mit scharfen
Scheiteln und schrägen Schäften gibt es hier auch eine Form mit senkrechten Schäften
und oberen Serifen, sowie eine Variante mit einem überzogenen schrägen zweiten
Zug und scharfem rechtem Scheitel. Besonders schön ist hier sodann die Zeichnung
des Buchstabens W und der Ligatur NN. Wenn wir die verschiedenen graphisch zwar
interessanten, aber dennoch etwas ungewöhnlichen Varianten unbeachtet lassen,
müssen wir zu dem Schluß kommen, daß dieses Alphabet eines tschechischen Re¬
naissance-Schriftkünstlers im übrigen direkt und eng mit der italienischen Renaissance-
Inschriftenmajuskel der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verwandt ist, wie sie uns
an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert der Maler und Architekt Donato Bra¬
mante in seinen Inschriften präsentiert, und nach ihm in der Mitte des 16. Jahrhun¬
derts zum Beispiel das Alphabet aus der Inschriftenschrift des Sebastiano Serlio (Abb.
7). Zu diesen zweifellos schönen Ergebnissen gelangte man überall auf einem neuen
Weg der Entwicklung, zu dem im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts die detaillierte
Analyse der klassischen römischen Inschriften-Majuskel, das Studium der gegenseiti¬
gen Beziehungen aller Bestandteile ihres Schriftbildes unter Benutzung neuer, in der
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