DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
allem sind das zwei plastische Itahenneschriften deutscher Schriftgießereien, die erste
sehr massiv mit Konturen der Stärke aller Bestandteile des Schriftbildes (Abb. 189
G-L), und die zweite weniger plastisch, dafür aber mit einem kleinen Alphabet (Abb.
189 A-f). Wir konnten bisher nur ein einziges Beispiel einer dekorierten Italienne fest¬
stellen, nämlich eine hchte plastische Italienne, die mit Pünktchen in den Serifen und
fetten Horizontalen verziert ist und die der englische Schriftgießer J. Wood um 1862
herstellte und N. Gray in sehr undeutlicher Umzeichnung anführt. Mit zwei sehr
ansprechenden Beispielen ist jedoch eine Perspektiv-Italienne vertreten. Eine dieser
Varianten brachte im Jahre 1844 die Caslonsche Schriftgießerei heraus (Abb. 189
M-R), sie scheint aber in dieser Beziehung keinen Anspruch auf das Primat zu haben.
Um dieselbe Zeit besaß auch Medau in Leitmeritz diese massive, aus der Seitenansicht
konzipierte und mit schraffiertem Schatten modellierte Italienne in einem großen En¬
semble von Schriftgraden, und außer ihm hatten sie wohl auch französische Schrift¬
gießer. In Medaus Musterbuch findet sich sodann die Probe einer zweiten perspekti¬
vischen Italienne, die gleich modelliert, aber diesmal in Untersicht konzipiert ist (Abb.
189 S-Z). Schließlich kann man interessehalber noch zwei amerikanische Schriften
als Beispiele einer ornamentierten Italienne anführen (Abb. 190). In der ersten dieser
Schriften beruht die gesamte Ornamentierung der Schriftzeichnung auf dem schrägen
Abschneiden der Serifen und fetten Horizontalen, und darum kann uns diese Schrift
auch als Probe einer beschnittenen Italienne dienen. Als Itahenne desselben Typus
müssen wir auch die zweite Schrift unserer Probe ansehen, obwohl sie auf den ersten
Blick eine kuriose Abart zu sein scheint, die nirgends eingereiht werden kann. Nichts¬
destoweniger stellen wir hier bei näherer Betrachtung die für die Italienne typischen,
aber schräg abgeschnittenen Serifen fest, und so kann uns diese Schrift ebenfalls als
Schulbeispiel für die Applikation unserer Methode der Schriftformen-Klassifizierung
dienen, womit wohl auch ihre gesamte Qualität erschöpft scheint.
Eine weitere Form in der morphologischen und chronologischen Ordnung unserer
Übersicht der Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts ist eine Schriftart, die bei ihrer
Entstehung in England den Namen Tuscan erhielt. Diese Bezeichnung ist ebenso zu¬
fällig und unbegründet wie die Namen Egyptienne, Antique, French Antique, Ita¬
lienne u. ä. Wie die Egyptienne mit Ägypten und die Italienne mit Italien nichts
gemeinsam hatten, so hat auch diese 'toskanische' Schrift keinerlei Beziehung zu der
italienischen Provinz Toskana oder zur toskanischen Ordnung der römischen Bau¬
kunst. Ihre Bezeichnung kann man also wieder nur mit kommerziellen Gründen er¬
läutern, durch die sich die englischen Schriftgießer veranlaßt sehen, immer wieder mit
etwas Neuem herauszukommen, und wenn nicht mit einer neuen Schriftform, so doch
wenigstens mit einem neuen Namen. In diesem Falle kann man wirklich nur von einer
alt-neuen Form sprechen, denn obwohl sie bei ihrer Einführung durch Vincent Figgins
im Jahre 1815 vielleicht als sensationelle Neuheit wirkte, begegnen wir in ihrer Zeich¬
nung wiederum dem altehrwürdigen Prinzip der Spaltung der Serifen und Schäfte,
jenem Prinzip, das sich seit dem Altertum immer noch als Hauptprinzip einer Orna¬
mentierung der Schriftzeichnung erhalten hat. Es ist noch nicht so lange her, daß wir
in der barocken Typographie und Kalligraphie besonders schöne Proben derartig
ornamentierter Schriften dieser Zeit bewundern konnten.
Das Spalten der Schäfte und Serifen war - wie wir bereits gesehen haben - bei jeder
З38
mm
187. Schmale fette sog. englische Italienne des ig. Jahrhunderts.
ABCDEFGH
IJKLMUOF
QRSTUVTZ
188. Breite sog. englische Italienne des ig. Jahrhunderts.