DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
schweren dreieckigen Serifen ohne Kehlung 'Renaissanceschrift' benannten. Es ent¬
gingen ihnen dabei aber andere charakteristische Merkmale der Renaissanceschriften
dieser Art, graphische Eigenschaften, die typisch sind für die INSCHRIFTENMA¬
JUSKEL DER HOCHRENAISSANCE in der Form, wie sie sich uns größtenteils
unter dieser Bezeichnung darbietet. Im angeführten Falle ist das vor allem die deut¬
liche Tatsache, daß in der Behandlung der Schriftzeichnung außer der typischen Form
der Serifen keine weitere Spur selbständigen Schaffens blieb und daß es sich hier
schon um eine treffende, wenn auch nicht immer erfolgreiche Nachahmung altrö¬
mischer Vorlagen handelt.
Die Zeit der Bestrebungen der italienischen Renaissancekünstler um einen eigenen
unabhängigen schriftkünstlerischen Ausdruck endet in den letzten zwei oder drei Jahr¬
zehnten des 15. Jahrhunderts, als sich die allgemeine Hinwendung zu den klassischen
altrömischen Mustern auch auf diesem Gebiet vollzog. Von dieser Zeit an waren die
itahenischen Renaissance-Inschriften völlig von den standardisierten Renaissance¬
repliken der klassischen scriptura quadrata in der Hochform der ersten zwei Jahr¬
hunderte der römischen Kaiserzeit beherrscht. Wenn die vorangegangene Entwicklung
auch zweifellos viele schöne Ergebnisse brachte, die einer Weiterentwicklung fähig
waren, kann man anderseits doch nicht leugnen, daß das direkte Studium altrömischer
Muster auf seine Art und in der gegebenen Situation des Stilwandels sehr nützlich und
fruchtbar war. Davon zeugen auch die großartigen Inschriften, in denen auf diesem
Wege unbestritten die absolute Stileinheit der Schrift mit dem plastischen, bildhaueri¬
schen oder architektonischen Aspekt von Objekten erreicht wurde, deren Komposition
die Inschrift organisch eingegliedert wurde. Als besonders schönes, aber keineswegs
vereinzeltes Beispiel dieser Tatsache kann man die herrhche, wahrhaft klassische In¬
schrift auf dem Grab des Kardinals de Mella aus der Zeit nach 1467 in der Kirche
S. Maria di Monserrato in Rom anführen (Taf. Vb), eine Inschrift, deren bewunderns¬
werte Ordnung der graphischen Komposition und nicht weniger bewundernswerte
zeichnerisch vollendete Monumentalmajuskel den Vergleich mit den besten Beispielen
altrömischer Schriftkunst sicherlich ohne Einbuße aushalten. Im schönen Rhythmus
der Proportionen reihen sich hier die Zeichen eines graphisch edlen Alphabets an¬
einander (Abb. 5), ansehnlich harmonisiert in der Gesamtheit und in den Details der
Zeichnung der einzelnen fein ziselierten Buchstaben. Viele dieser Buchstaben ragen
durch eine besonders schöne Form hervor, zum Beispiel das A mit dem konkav ab¬
geschnittenen Scheitel, die Buchstaben C, D, О und Q mit der deutlich schrägen
Schattenachse, das M in der Variante mit leicht geneigten äußeren Zügen, das P mit
dem nicht geschlossenen Bäuchlein, das Q mit dem langen und schön gezirkelten
Schweif, das in seiner Zeichnung aus der Schrift der Trajanssäule abgeleitete R usw.
Höchste Anerkennung verdient aber die schöne Form der fein zugespitzten Serifen
mit der ziemhch steilen Kehlung.
Aus der Beschreibung des Alphabetes dieser Inschrift ließe sich also vorläufig
schließen, daß es sich tatsächhch um nichts anderes handelt als um eine außerordent¬
lich getreue Kopie der hochklassischen scriptura quadrata, nichtsdestoweniger enthält
aber dieses Alphabet einige charakteristische Merkmale, die sie zu einer typischen
Schrift ihrer Zeit machen, einer typischen Inschriften-Majuskel der Renaissance. Als
ein solches spezifisches Kennzeichen der Renaissance kann man zum Beispiel schon
die Form ansehen, wie der Scheitel beim A abgeschnitten ist. Völhg renaissancehaft
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