DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
eine auf den ersten Blick typische, schraffiert schattierte Egyptienne. Das X aus Marrs
Egyptienne von 1853 hat schon eine ganz andere Gestalt, die die Zusammensetzung
aus kantigen Stäben bereits so vollendet vortäuscht, daß wir diese Schrift zweifellos
als schönes Beispiel einer rustikalen Egyptienne ansehen können.
Zum Abschluß dieser Übersicht ornamentaler Modifikationen der plastischen Egyp¬
tienne bleiben noch die Beispiele von Perspektiv-Egyptienne übrig, die alle in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und alle aus demselben Gesichtswinkel
konzipiert sind. Die älteste unter diesen ziemlich schlechten Schriften wurde 1837
von der englischen Firma Bower & Bacon hergestellt, und zwar mit voll gefärbtem,
nach rechts oben verlaufendem Schriftbild und nur durch Kontur betonter Stärke.
Im wesentlichen gleich in Konzeption und Qualität, aber mit schraffierter Stärke und
auf schraffierter Grundlage ruhend, ist die etwa aus dem Jahre 1838 stammende Egyp¬
tienne von William Thorowgood. Nicht viel jünger und besser ist bestimmt auch die
abschheßende dritte, diesmal eine lichte und schwarz schattierte Variante, die C. W.
Medau in seinem Musterbuch in mehreren auch zweifarbigen großen Schriftgraden
für den Plakatdruck nachweist.
Unter allen Akzidenzschriften, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden, ist
die sogenannte ITALIENNE der Egyptienne am nächsten verwandt. Wieder einmal
handelt es sich um eine recht kuriose, aus dem englischen Italian und dem französi¬
schen italienne abgeleitete Bezeichnung, denn die so getaufte Schrift hat mit Italien
nichts gemeinsam. Zur charakteristischen Form der Itahenne gelangte man durch
konsequente Weiterführung des Prinzips der Egyptienne-Zeichnung, weitere Ver¬
größerung der Höhe der Serifenflächen, die auf diesem Wege aus einer unwesentlichen
Zutat zum wichtigsten und ausgeprägtesten Element des Schriftzeichens wurden. Der
eigentlichen Schriftkonstruktion blieb im Laufe der Zeit schließlich keine andere gra¬
phische Aufgabe, als die beiden parallelen und gleichen Streifen der schweren Quadern
der oberen und unteren Serifen zu verbinden, was freilich die Lesbarkeit des Textes
nicht förderte. Das übersahen die Schöpfer der ersten Italienneschriften jedoch zwei¬
fellos in ihrem Bemühen, eine besonders auffällige und dekorative Schrift zu schaffen.
In der Entwicklung der Italienne können wir nach dem Charakter der Zeichnung
ihrer Grundform zwei Hauptphasen feststellen. Die ursprüngliche ältere Form der Ita¬
lienne, mit der im Jahre 1821 die Caslonsche Schriftgießerei herauskam (Abb. 182),
ist eine überaus merkwürdige Schrift, bei der das Prinzip der Egyptienne-Serifen mit
absurder Konsequenz auf die Spitze getrieben wurde. Auf sie bezieht sich mit vollem
Recht Hansards Bemerkung von den schriftkünstlerischen Mißbildungen. Das gilt
nicht so sehr für die hohen kantigen Serifen und die dementsprechende Verstärkung
aller horizontalen Züge in den äußersten Grenzen des Majuskelsystems, als vielmehr
für die eigenwillige Vernachlässigung der uralten Gesetze der Formkomposition der
lateinischen Majuskel. Ohne Rücksicht daraufist hier z. B. beim Buchstaben A der
erste Zug fett, ebenso beim M der erste und dritte. Beim N sind jedoch die Schäfte
stark und die Diagonale schwach, ebenso umgekehrt ist das Verhältnis des schwachen
und des starken Zuges beim U, der Querbalken beim H ist durch zwei dünne Striche
ersetzt, eine kuriose dreieckige Form haben die Serifen der Querbalken bei den Buch¬
staben E, F, L, T usw. Trotz einer Menge solcher graphischer Unzulänglichkeiten war
diese Schrift offenbar sehr erfolgreich und fand recht bald auch in Frankreich, im
ЗЗ2
ABCDEÉ
HOFRST
T7WZY2
1234
182. Italienne, ältere Form des ig. Jahrhunderts.
333