DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Caslon im Jahre 1843 anbot und wie sie heute unter der Bezeichnung Clarendon z. B.
die schweizerische Firma Haas'sche Schriftgießerei in Münchenstein hefert (Abb. 171).
Am Ausgang des 19. Jahrhunderts war eine breite fette englische Egyptienne sehr
behebt, und hier und da begegnen wir ihr in älteren Druckereien auch heute noch in
einer beachtlichen Skala von Schriftgraden. Nicht weniger häufig war zu dieser Zeit
ihr Gegenteil, eine schmale fette englische Egyptienne, oder noch häufiger ihre halb¬
fette Variante, deren besonders schönes Ensemble manche Druckerei bis heute in einer
Ausgabe der Leipziger Schriftgießerei J. G. Schelter & Giesecke von 1897 besitzt
(Abb. 172). Die schmalen Proportionen der englischen Egyptienne wurden jedoch,
besonders in den größeren Schriftgraden für den Plakatdruck, sehr stark übertrieben
(Abb. 173), ohne daß der nicht alltägliche graphische Reiz der Schrift dieses Schnittes
darunter besonders gelitten hätte.
Ebenso wie die fette Antiqua drang im Lauf der Zeit auch die fette Egyptienne in
den kleineren Schriftgraden als Schrift von Titelblättern und Kapitelüberschriften in
die Bücher ein, im 19. Jahrhundert aber vermochte sie auf diesem Gebiet die Grenzen
der billigen populären Literatur nicht zu überschreiten. Anders war das bei der ma¬
geren Egyptienne, die sehr bald zum Prototyp des Schnittes für zahlreiche Ze^tmgs-
Egyptienne-Schriften wurde, besonders nachdem mit der Erfindung des Rotationsdrucks
die Druckereien der Tagespresse mit einer Schrift versehen werden mußten, die unter
dem technischen Prozeß der Stereotypie am wenigsten litten. Die uniforme Breite des
Schriftbildes aller Lettern des großen und kleinen Alphabets der Egyptienne war in
den Augen der Konstrukteure, die nach einer geeigneten Schreibmaschinenschrift suchten,
ein großer Vorzug. Darum wurde die magere Egyptienne bei Schreibmaschinen aller
Arten eingeführt und stellt nach wie vor, mit wenigen Ausnahmen, fast die einzige
Urkundenschrift seit der Zeit der allgemeinen Verbreitung dieser in der Geschichte des
Schreibwesens so umwälzenden Erfindung dar. Ursprünglich der Akzidenzsetzerei
entliehen, kehrte die Schrift der Schreibmaschine dorthin in zahlreichen Repliken als
Schreibdruckschrift zum Satz von Drucksachen zurück, bei denen die Authentizität
einer 'Handschrift' vorgetäuscht werden sollte. Um diese Vorspiegelung in den Augen
des Lesers noch wahrscheinlicher zu machen, wurde in diesem Fall auch eine gleiche
Breite der Lettern und Zwischenräume beibehalten, die in der Typographie allerdings
technisch überflüssig und kurios ist. Darum sind einige Schreibmaschinen-Egyptienne-
Druckschriften in Übereinstimmung mit den Regeln des typographischen Satzes ge¬
schnitten und gesetzt worden, womit aber die Absicht der Imitation höchst durch¬
sichtig wird.
Obwohl die Grundform der Egyptienne - die an sich in vielen Fällen sehr dekorativ
ist - den Dessinateuren der Schriftgießereien sicherlich recht viele Möglichkeiten einer
ornamentalen Variierung bot, kam die wahrhaft ornamentale Egyptienne in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts merkwürdigerweise doch in keiner größeren Zahl von
Varianten vor als die fette Akzidenz-Antiqua. Eine Übersicht dieser Varianten wird
ähnlich wie bei der vorangegangenen Akzidenzschrift am besten wieder von Formen
eingeleitet, bei denen sich die Grundzeichnung der Egyptienne am geringsten ver¬
ändert hat. Von diesem Gesichtspunkt aus muß in der ersten Hauptgruppe, die der
ornamentalen flächigen Egyptienne gehört, gleich zu Beginn eine negative Egyptienne an¬
geführt werden, bei der sich an der Grundzeichnung nichts anderes geändert hat, als
daß sie auf vollem oder ornamentalem Hintergrund ausgeführt war. Bei den Bei-
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ABCDEFG
HIJKLMN
OPQRSTU
VWXYZ
123456780
172. Schmale halbfette sog. englische Egyptienne des ig. Jahrhunderts.
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