DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
wagt die Firma Bower, Bacon & Co. ihre Schrift dieses Schnittes als Egyptienne an¬
zubieten, die Bezeichnung Antique bleibt aber auch weiterhin erhalten. Nach Johnson
kommt die Egyptienne im Jahre 1830 erstmalig auch im Musterbuch des Frankfurter
Schriftgießers Andreae vor, und erst danach, noch inkonsequent mit einem der beiden
englischen Namen bezeichnet, auch bei weiteren Schriftgießern des europäischen Kon¬
tinents. Dem steht aber die Tatsache gegenüber, daß schon bald nach 1820 in Frank¬
reich eine hochornamentale Form der ausgereiften Egyptienne geschaffen wurde,
wovon abgeleitet werden könnte, daß sie in ihrer Grundform dort schon etwas früher
aufgekommen war.
Auch die Egyptienne entwickelte sich in einigen Abarten der Grundform. Am
ältesten und im Europa des 19. Jahrhunderts anscheinend am häufigsten war eine
nicht sehr fette Egyptienne mit Versalien von annähernd quadratischen Proportionen,
also ungefähr ähnlich der, die Vincent Figgins im Jahre 1828 produzierte. Ein
wichtiges Merkmal dieser Grundform der Egyptienne sind scharf angesetzte rechteckige
Serifen ohne Kehlung, wobei dieses Prinzip mit größerer oder geringerer Konsequenz
nicht nur bei den Versalien, sondern auch im kleinen Alphabet verwirklicht wurde.
Die so bearbeitete Grundform war zwar senkrecht, aber sehr bald, schon im Jahre
1825, ergänzte sie die Schriftgießerei Caslon durch eine schräge Begleitschrift, die man
nur als geneigte Egyptienne bezeichnen kann. Von dieser völlig unkursiven, nach dem
Lineal gezeichneten Egyptienne-Variante als von einer Kursivschrift zu sprechen, wie
dies sehr häufig geschieht, halte ich für völlig fehlerhaft. Während es noch möglich war,
mit dem Namen Italika eine fette Version der Italika des klassizistischen Typus zu
bezeichnen, ist diese Möglichkeit bei der geneigten Egyptienne ausgeschlossen, denn
ihre Zeichnung unterscheidet sich von der senkrechten Egyptienne durch nichts an¬
deres als die bloße Neigung der Schriftachse. Das betrifft vor allem ihre Versalien,
aber später auch das kleine Alphabet. Insgesamt ist sie eine Schriftform, deren Ent¬
stehung man weder durch tatsächlichen Bedarf und Nutzen, noch durch irgendwelche
bemerkenswerte formale Beiträge entschuldigen kann. Sie ist ein typisches Kind jener
Zeit, die den Schriftgießer nötigte, immer wieder etwas Neues zu bieten, ohne Rück¬
sicht auf andere Gesichtspunkte als das Interesse am kommerziellen Erfolg.
Die anderen Varianten der Grundform der Egyptienne lassen sich nach den üblichen
Gesichtspunkten einteilen, vor allem also nach dem Maß der Fette ihrer Zeichnung
und nach den Proportionen ihres Schriftbildes. Hiernach können wir nicht nur fette
und magere, breite und schmale Egyptienneschriften unterscheiden, sondern auch
fette breite, fette schmale, magere breite und magere schmale. Unter den so einge¬
teilten Egyptienneschriften können wir dann immer noch zwei Hauptvarianten er¬
kennen, und zwar nach der Form der Serifen. Die erste davon ist die reine ursprüng¬
liche Egyptienne mit ungekehlten Serifen. Zu dieser gesellte sich aber bereits 1821 in
der Zierschrift von Vincent Figgins und dann etwa 1844 in der vollen breiten Grund¬
form der Egyptienne aus der Caslonschen Schriftgießerei die zweite Variante mit
rundgekehlten Serifen. In England wurde diese Form mit dem Namen Clarendon oder
Ionic bezeichnet, während sich anderswo für sie die Bezeichnung englische Egyptienne
einbürgerte, obwohl es scheint, daß sie auf dem europäischen Kontinent viel häufiger
war. Natürlich wurde auch diese Modifikation in verschiedenen Abstufungen der Fette
und in verschiedenen Proportiçnen des Schriftbildes hergestellt.
Als Standardform und zeichnerisch vielleicht ausgereifteste Egyptienne des 19. Jahr-
316
ABCDEFGH
IJKLMNOP
QRSTUVXY
Z12345678
90abcdefg
hijblmnop
qrstuvxyz
167. Französische fette Egyptienne der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts.